Gewählt. Nicht auserwählt.

Immer wieder - und das vermehrt - kommen Mails oder Briefe bei mir an, in denen Pfarrerinnen und Pfarrer klagen. Sie stehen vor einem im Prinzip wohlmeinenden, im persönlichen Fall meist harten, gelegentlich öffentlichen Gericht. Grund: von der Norm abweichende Sexualität; von der Norm abweichende politische Aussagen; von der Norm abweichende Beziehungen; von der Norm abweichende theologische Aussagen … Missbrauchsskandale förderten - warum auch immer, darüber mögen die Psychologen urteilen - die Einschaltquoten der Fernsehsender.
Es gab - medial präsentiert - Beobachtungen und Vorwürfe zu pädophilen Priestern und Pfarrern, zu Pfarrerinnen und Pfarrern im „Treuebruch“, zu Pfarrerinnen und Pfarrern mit zu großer Nähe zu anderen Religionen … Insbesondere das sexuelle Verhalten (ist gleich sofort „Verschulden“) war und ist bis heute Thema.

Keine Frage: Sex mit Kindern ist ein absolutes Tabu, ebenso das Geschäft mit Kindern, Bildern oder Adressen. Doch umgekehrt: Die sexuelle Orientierung einer Pfarrerin oder eines Pfarrers darf nicht Grund für eine berufliche Ablehnung sein. Schwulen Männern wie lesbischen Frauen steht ein Pfarrhaus offen. Nicht anders Menschen, die neu lieben und damit ihr Eheversprechen auf eine harte Probe stellen. Dazwischen gibt es keine Grauzone: Kinder sind Kinder. Gewalt ist Gewalt. Geschäft ist Geschäft. Jeder weiß das. Jede und jeder kann unterscheiden, auch wenn das gelegentlich schwerfällt.
Ich weiß, dass dies den Gemeinden, den Gemeinde- und Kirchenleitungen viel abverlangt. Mehr, als manchen möglich ist.

Am peinlichsten ist es, wenn Briefe - gar noch anonyme - ein sexuelles Fehlverhalten eines Amtsträgers anklagen. Dabei geht es eher darum, dass Pastor A mit Presbyterin B geschlafen hat oder Pastorin C mit einem reichen Spender D. Das ist nur Zunder für die Presse, die mit alten Herrschaftsbildern und deren lüsterner Zerstörung billig Sensationslüstige beim Friseur oder der Hausärztin bedient.
Pfarrer werden an den Pranger gestellt.
Pfarrerinnen werden mürbe gemacht.
Kantoren versetzt.

Ich zitiere einen Teil aus Dostojewskis „Großinquisitor“ (aus dem Bändchen, Der Großinquisitor, Köln 2007, S.4 - 44 in Auswahl):
„Es sind jetzt fünfzehn Jahrhunderte verflossen; wohlan, mustere die Menschen: Wen hast Du zu Dir emporgehoben? Ich schwöre Dir: Der Mensch ist schwächer und niedriger, als Du von ihm geglaubt hast! Kann er denn, frage ich, kann er denn das überhaupt ausführen, was Du ausgeführt hast? Indem Du ihn so hoch einschätztest, hast Du gehandelt, als ob Du kein Mitleid mehr mit ihm empfändest; denn Du hast gar zu viel von ihm verlangt, Du, der Du ihn doch mehr liebtest als Dich selbst! Hättest Du ihn minder hoch eingeschätzt, so würdest Du auch weniger von ihm verlangt haben, und das wäre liebreicher gewesen; denn seine Bürde wäre dann leichter gewesen. Er ist schwach und gemein. … Dein großer Prophet sagt in einer allegorischen Vision, er habe alle Teilnehmer der ersten Auferstehung gesehen, und es seien ihrer aus jedem Stamme zwölftausend gewesen.
Aber wenn ihrer so viele waren, so waren auch sie gewissermaßen nicht Menschen, sondern Götter. Sie haben Dein Kreuz getragen, sie haben es ertragen, jahrzehntelang in der öden, kahlen Wüste zu leben und sich von Heuschrecken und Wurzeln zu nähren - und Du kannst allerdings mit Stolz auf diese Kinder der Freiheit hinweisen, die Dich frei geliebt und um Deines Namens willen freiwillig ein so großartiges Opfer gebracht haben. Aber vergiss nicht, dass ihrer im Ganzen nur wenige Tausende waren, und das Götter; aber die Übrigen? Was können die Übrigen, die schwachen Menschen dafür, dass sie nicht dasselbe ertragen konnten wie die Starken? Was kann eine schwache Seele dafür, dass sie nicht imstande ist, so furchtbare Gaben in sich aufzunehmen?

Bist Du denn wirklich nur zu den Auserwählten und für die Auserwählten gekommen? Aber wenn es so ist, dann ist hier ein Geheimnis, und wir können es nicht verstehen. Wenn es aber ein Geheimnis ist, so waren auch wir berechtigt, dies zu verkünden und die Menschen zu lehren, dass nicht der freie Entschluss ihrer Herzen und nicht die Liebe das Entscheidende ist, sondern jenes Geheimnis, dem sie sich blind unterordnen müssen, selbst gegen ihr Gewissen. Das haben wir denn auch getan. Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf das Wunder, auf das Geheimnis und auf die Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geleitet wurden und dass endlich das so furchtbare Geschenk, das ihnen so viel Qual bereitet hatte, von ihrem Herzen weggenommen war. Sprich, waren wir berechtigt, so zu lehren und so zu handeln? Haben wir etwa nicht die Menschheit geliebt, als wir so freundlich ihre Schwäche anerkannten, ihre Bürde liebevoll erleichterten und ihrer schwächlichen Natur sogar die Sünde gestatteten, die mit unserer Erlaubnis geschah? Warum bist Du denn jetzt gekommen, uns zu stören? Und warum siehst Du mich schweigend und durchdringend an mit Deinen sanften Augen? Werde doch zornig! Ich will Deine Liebe nicht, weil auch ich selbst Dich nicht liebe.“

Bist Du denn wirklich nur zu den Auserwählten und für die Auserwählten gekommen?

Nein, wir Pfarrerinnen und Pfarrer sind gewählt, nicht auswählt.
Uns ist für unser Amt der Segen zugesprochen, nicht der Zauber einer Gefeitheit gegen den Bruch von Normen.
Messt - so meinte Martin Luther - die Pfarrer an ihrer Predigt, an ihrem Unterricht, am Evangelium.
Die Kleinkariertheit mancher Klägerinnen und Kläger erinnert mich an das linierte Papier, auf das ich in den 1950er-Jahren schreiben musste. Doch ich bin sicher, sie schreiben nicht - wie ich - über und unter die Linien. Sie schreiben akkurat. Das macht mir eine Gänsehaut. Sie sind arme Menschen. Nicht einmal den Linien auf dem Papier haben sie gekündigt. Haben nichts Neues probiert. Keine Wege verlassen. Keine noch so fremde Chance ergriffen. Hätten sie doch!

Nun meine Karikatur:
Sie fahren im Urlaub in den Schwarzwald oder fliegen nach Mallorca. Sie kaufen im Discountmarkt, fahren lieber einige Kilometer weiter, wo das Benzin billiger ist, wählen die herrschende Partei, duschen mit Blick auf die Wasseruhr, tragen Kleider aus der Werbung, überziehen nicht das Konto, schauen am Vorabend Serienfilme oder mittags Kochsendungen, stellen ihre Betten entsprechend der Wasserader auf und essen fettarm und kalorienbewusst.
Auf diesem Weg wäre der Mann aus Nazareth nie zu denen gekommen, die man zu seinen Zeiten als „Sünder“ auf Bäume geschasst oder vor die Stadt abgeschoben hat.

Im Übrigen freue ich mich, wie „international“ die PASTORALBLÄTTER in den letzten Jahren geworden sind: Schweiz und Deutschland, Papua-Neuguinea und Däne mark, Teheran und Miami, Schanghai und Großwechsungen … Als ich die Schriftleitung der PASTORALBLÄTTER 1999 übernahm, war das nicht denkbar. Die Weite! Danke allen, die sie fördern und pflegen.

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