Wohl jede Zeit hat ihren eigenen Zugang zu Liedern, gerade auch zu Liedern aus anderen Zeiten. Dazu bringen wir unsere je eigene Prägung mit. So lade ich Sie ein, das Lied: „Bei dir, Jesu, will ich bleiben“ mit mir zu entdecken. Bis vor 50 Jahren haben es viele im Konfirmandenunterricht noch auswendig lernen müssen. Unser Pfarrer erzählte, dass man sich selbst im Krieg daran festhalten kann. Ich wollte keinen Krieg, aber ich lernte. Was man lernen muss, kann sich einem verschließen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es damals empfunden habe. Die Melodie hat mich jedenfalls nicht vom Hocker gerissen und begeistert, wie viele andere Melodien, die ich gerne mitgesungen habe. Auch der Text war irgendwann abgelegt wie ein T-Shirt, das in der zweiten Reihe ganz oben verschwindet. Aber dann, nach Jahrzehnten, habe ich eine Erfahrung gemacht, die mir einen neuen Zugang zu dem Lied öffnete.
Es war an einem Urlaubsmorgen. Als wir am Abend davor das Hotel erreicht hatten, erschien uns die Stadt kalt, abweisend und ziemlich tot. Am Morgen aber begegnete mir vor dem Frühstück ein Mann. Er half mir ganz überraschend und auf unorthodoxe Weise, mein Auto aus einer misslichen Parksituation zu befreien. Und er gab mir lohnende Empfehlungen, wo ich mich den Tag über umschauen könnte. Seine unerwartete, ungeahnte Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft berührte mich tief. Und dadurch veränderte sich die Stadt für mich. Ich fühlte mich auf einmal willkommen. Plötzlich war klar: Hier bleibe ich den Tag über. Hier ist es wohltuend warm. Die Herzlichkeit und Hilfe dieses Zufallsbekannten hat meinen Tag völlig verändert.
So muss es doch auch für alle sein, die gerne bei Jesus bleiben: Wem Jesus unerwartet freundlich und hilfreich begegnet ist, der will in seiner Nähe bleiben: „Bei dir, Jesu, will ich bleiben.“ Und er lässt sich auf die hilfreichen Empfehlungen Jesu gerne ein: „… will auf deinen Wegen gehen.“ Ich verstehe: Der liebenswerte, freundliche Helfer am Urlaubsmorgen hat meinen ganzen Tag verändert. Um wie viel mehr hat Jesus mein Leben geprägt! So staune ich mit dem Lied: Das ist stark, wie du schon lange „meines Lebens Leben“ bist. Es ist erstaunlich, wie viel Power ich von dir bekommen habe. Kraft und Lebenssaft spüre ich bei dir, so wie Reben vom Weinstock ihre Energie erhalten. Wie viel unerwartete Hilfe und Freundlichkeit haben viele von uns von Jesus erfahren!
In einem Lied unserer Zeit habe ich es so mitgesungen: „Wie viel schöne Stunden hat mir Gott bis jetzt geschenkt, wie viel gute Jahre, wie viel Liebe. Wie viel Hilfe konnte ich in kleinen Dingen sehn, wüsste nicht, wo ich alleine bliebe. Da kann man nur staunen über Gott und über die Wunder, die er tut, einfach nur staunen.“ (Hella Heizmann)
Allerdings liegt das nicht so sichtbar vor Augen wie meine Begegnung am Morgen jenes Urlaubstages. Es braucht schon eingeübte, geschulte Wahrnehmung. Wie sollte ich sonst mehr erkennen können, als nur, dass ich Glück gehabt habe? Das verbindet mich ja mit allen - dass ich Glück gehabt habe. Nur: Woher kommt mir das Glück? Unser Lied formuliert biblisch: „Könnt ich’s irgend besser haben als bei dir, der allezeit so viel tausend Gnadengaben für mich Armen hat bereit.“ Ich erinnere an ein paar von diesen Gnadengaben, die wir heute als Glück beschreiben: das Glück, geliebt zu werden und für andere wertvoll zu sein. Das Glück, frei zu sein von Lasten und Angst-Machendem. Das Glück, in Frieden leben zu können und in Freiheit. Das Glück, Enkelkindern vorlesen zu dürfen und von der Nichte ihr Tablet erklärt zu bekommen. Unser Lied glaubt: Hinter diesem allem ist Jesus. Und obwohl ich Armer all dies nie bezahlen könnte: Er schenkt mir so viel tausend Gnadengaben, so viel Glück.
Nun ist das Lied ja nicht für selbstbestimmte Urlaubstage gedacht, an denen wir das Glück leichter entdecken, das uns geschenkt wird. Darum hat es auch schwere Zeiten bestanden. Es spannt sich über Schuld und Vergebung bis hin zum Sterben und dem Tod. Es ist nicht seicht und oberflächlich. Es passt auch dort, wo ich versagt habe, wo ich mich schäme und mir das Hirn zermartere, wie es dazu kommen konnte. Und ich höre und singe: Dieser Jesus hält dennoch an mir fest, hat sogar die Haftung für mich übernommen und die ganzen Folgekosten. Er hat „mich erkauft von Tod und Sünden mit dem eignen teuren Blut“. So lässt mich dies Lied auch da nicht allein, wo ich den Aufklärungsbogen im Krankenhaus unterschreiben muss, damit ich noch eine Chance zum Besseren habe. Jetzt geht es nicht mehr darum, wo ich bleibe und bei wem. Vielmehr bitte und flehe ich: „Bleib mir nah auf dieser Erden ... bleib mir dann zur Seite stehen.“ Verlass mich nicht, lass mich nicht allein. Da ist es ein Glück, Jesus entdeckt zu haben. Es ist ein Glück, mit meinen Gedanken nicht allein zu sein, sondern in Zwiesprache mit ihm. So wage ich mich bis an das Ende in meinen Gedanken heran. Mit anderen will ich nicht darüber sprechen. Ich scheue mich davor. Aber mit dem Unsichtbaren und dennoch Nahen kann ich dies denken. Er versteht, was mich bewegt, wenn ich bitte: „Bleib auch, wenn mein Tag sich neigt“ und: „Lege segnend dann die Hände mir aufs müde, schwache Haupt.“
Ja noch mehr: Weil er bei mir bleibt, kann ich sogar mutig hoffen, „dass ich fröhlich zieh hinüber, wie man nach der Heimat reist“. Mit ihm wird es gut sein, im neuen Zuhause anzukommen. Am Abend davor ist es zwar noch kalt und es mag mir grauen vor der Nacht. Aber am Morgen verändert sich durch Jesu unvorstellbare Freundlichkeit alles. Ihm nahe zu sein ist mein Glück - an den schönen und an den schweren Tagen.
Liedvorschläge: 488 (Bleib bei mir, Herr)
Taizé (Bleib mit deiner Gnade bei uns)