Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Römer 8,3
Manchmal ist ein deutliches Wort am Platze, auch wenn es schwerfällt. In diesem Falle wohl: Es gibt biblische Worte, die missbraucht worden sind. Für den markanten Satz des Paulus gilt es leider. Wie ungezählte Schlachten wurden mit dem Satz auf den Lippen in Angriff genommen: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ - „Im Namen Gottes, der auf unserer, ja nur auf unserer Seite steht.“ Offenbar mangelte es Feldherren nicht an Selbstbewusstsein; sie waren (und sind) sich ihrer Sache so sicher, dass sie die höchste Macht auf ihrer und nur auf ihrer Seite wissen und daher skrupellos Menschen in den Tod jagen, wenn die leider auf der falschen Seite zu finden sind. Was kann schließlich ein anderer Mensch den hindern, der daherkommt als von Gott selbst autorisiert?!
Wenn ein Diamant in den Schmutz getreten wurde, bleibt nichts anderes übrig, als ihn vom Schmutz zu befreien - andernfalls kommt seine Leuchtkraft und Kostbarkeit nicht zur Geltung. „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Der Satz des Paulus ist ein Diamant, aber er ist im Verlauf der Menschheits- und Christentumsgeschichte reichlichst mit Schmutz überschüttet worden.
Der heutige Mensch hat seine Probleme, sich als Sünder, als Versager vor Gott zu verstehen und zu erleben. Und dennoch sind die Sprechzimmer der Psychologen voll von Menschen, die nicht weiterwissen. Da schleicht sich eine tiefe Verzagtheit an, beinahe sieht das so aus, als wollte man vor dem Leben an sich kapitulieren. Und die Binsenweisheit: Nur bei mir selbst kann ich etwas ändern (wenn ich nur wüsste, was!) hilft dem einsamen Menschen nicht weiter. Wer das Vertrauen ins Leben verloren hat, steht ziemlich ratlos davor.
Paulus hat gewusst um die ganz tiefe Gefahr, die jedem Menschen auflauern kann, die Gefahr, dass ein Menschenleben vergeblich sein kann, dass da plötzlich der Abgrund gähnt und anscheinend niemand zu Hilfe kommt, wenn man sich selbst ins Bodenlose fallen spürt. Luther konnte reden vom dunklen Gott, der sich vor uns verbirgt. Und wo bleiben wir dann? Wo ist dann noch Halt, wenn nicht nur irdisch-menschliche, sondern existenzielle Stützen zusammenbrechen? Luther konnte - und darin kannte er Paulus gut! - nur die eine Antwort geben: Wenn euch im Leben der dunkle Gott begegnet, dann haltet euch an den, der sich ganz klar und unmissverständlich erklärt hat: Haltet euch an Jesus Christus, in dem Gott ein für alle Mal sein Wort der Liebe zum Menschen - zu jedem Menschen! - gesprochen hat. Keine Kriegspartei darf Paulus für sich in Anspruch nehmen, weil Paulus ohne Einschränkung redet: Gott hat Jesus Christus in die äußerste Finsternis hingegeben am Kreuz. Damit hat er sich ein für alle Mal auf die Seite des Menschen gestellt. Niemand mehr muss im bodenlosen Abgrund existenzieller Verlassenheit versinken, weil Christus am Kreuz diese Verlassenheit getragen hat. Gott verlässt uns nicht, er ist und bleibt bei uns, egal, welche Umwege wir gehen, egal, auf welche Ab- und Irrwege wir geraten mögen. Wir mögen es aus unseren eigenen Freundschaften kennen, dass wir manchmal, wenn das Leben des Freundes/der Freundin allzu chaotisch wird, nicht mehr können. Wir würden selber mit in den Strudel hineingerissen, wenn wir uns nicht zu klarer Distanz durchringen würden - aber Gott ist nicht ein Mensch. Er bleibt an unserer Seite, egal, was geschieht, egal auch, wenn wir selbstverschuldet ins Unglück geraten. In dem Augenblick, wo du auf Christus schaust, darfst du Gottes gewiss sein. Der Satz des Paulus ist ein Satz, der trösten, aufrichten und stärken soll, aber eben nicht den Kriegsherrn, sondern den verzagten, verzweifelten Menschen, der nicht weiter sieht. Ich kenne keine schönere Auslegung dieses Satzes als die Dichtung Paul Gerhardts zur Weihnachtszeit: „Sollt‘ uns Gott nun können hassen, der uns gibt, was er liebt über alle Maßen? Gott gibt, unserm Leid zu wehren, seinen Sohn aus dem Thron seiner Macht und Ehren!“