Der Monatsspruch im Mai 2015

Philipper 4,13: Dr. Adelheid M. von Hauff

Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt.
Philipper 4,13

„Du kannst, denn du sollst!“ Mit dieser Zusage begründet Immanuel Kant die Notwendigkeit, sich in einer konkreten Situation oder Sache zu verhalten. Neben diesen, von der Vernunft geleiteten Satz stelle ich die vom Vertrauen auf Christus getragene Aussage des Paulus. Aus dem Gefängnis heraus kann er an die Gemeinde von Philippi schreiben: „Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt.“ Was befähigt den Apostel in einer nahezu ausweglosen Lage zu der Gelassenheit, aus der heraus er sagen kann: Ich kann niedrig und hoch sein, ich kann satt sein und hungern, ich kann Überfluss haben und Mangel leiden? Es ist nicht die Stärke des Helden, die diese Worte formuliert, es ist das Annehmen der Schwäche, das Paulus darauf vertrauen lässt, dass Christi Kraft auf die Schwachen „herabkommt“. Wenn ich darüber nachdenke, in welcher Situation Paulus den Philipperbrief geschrieben hat, dann werde ich unmittelbar an Dietrich Bonhoeffer erinnert. Seine Gefängnisbriefe enthalten ähnliche Aussagen. Besonders seinem Gedicht „Wer bin ich“ entnehme ich Worte, die von einer mit Paulus vergleichbaren Gelassenheit sprechen und zugleich die eigene Zerrissenheit nicht verschweigen. Bonhoeffer fragt:

„Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, …

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

Beides entnehme ich diesem Gedicht, Verzweiflung und Gelassenheit. Wie kommen Paulus und Bonhoeffer zu einer Haltung, die Verzweiflung und Gelassenheit in gleicher Weise zulässt? Und wie komme ich zu einer Haltung, mit der ich den Höhen und Tiefen des Lebens in gleicher Weise gelassen begegnen kann? Woher empfange ich die Kraft, aus der heraus ich „allem gewachsen bin“ (so die Übersetzung der Basisbibel)? Woher empfange ich die Kraft, allein und in Gemeinschaft zu leben? Woher empfange ich die Kraft, loszulassen statt zu klammern? Woher empfange ich die Kraft, das Unabänderliche zu ertragen?

Kraft empfange ich von dem Gott, der mir aus vielen Quellen Kraft zufließen lässt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich einige Kraftquellen nennen.
Menschliche Beziehungen sind eine Kraftquelle. Zu diesen Beziehungen gehören die nächsten Verwandten wie Eltern, Ehepartner und Kinder. Zu diesen Beziehungen gehören Freundinnen und Freunde. Menschliche Beziehungen geben Kraft auf den Höhen und in den Tiefen des Lebens. Zugleich bergen menschliche Beziehungen aber auch Gefahren in sich. Gefahren, die darin bestehen, dass wir uns zu sehr an Menschen binden und uns zu sehr auf sie verlassen. Ich greife hier die Beziehung zu den Kindern heraus. Es gehört zu den schönsten Aufgaben von Eltern, Kinder ein Stück ihres Weges zu begleiten, und es gehört zu den schmerzlichsten Aufgaben, sie in die Selbstständigkeit zu entlassen. Wo es Eltern gelingt, ihre Kinder rechtzeitig loszulassen, da werden diese, aus dem Abstand ihres eigenen Lebens heraus, Kraftquellen für das Leben der Eltern bleiben. Sie werden die Eltern weiterhin so an ihrem Leben teilhaben lassen, wie es für beide gut ist.
Zur Kraftquelle kann das Einüben in das Alleinsein werden. Allein Musik hören, allein einen Spaziergang machen, allein ein Hobby pflegen, das kann man, ja das muss man lernen. Auch hier fällt mir ein Text von Dietrich Bonhoeffer ein. In dem Büchlein „Gemeinsam leben“ schreibt er: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft“ … Umgekehrt gilt (aber) auch der Satz: „Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“ (Gemeinsames Leben, S. 64f) Damit ist sowohl die Kraft als auch die Gefahr der Einsamkeit benannt. Die Gefahr besteht in der Flucht vor der Gemeinschaft. Beides gehört aber zusammen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Kraft, die uns aus der Stille zufließt. Stille kann sowohl in der Natur als auch in geschlossenen Räumen erfahren werden. Stille kann daheim und in Klöstern erlebt werden. Damit Stille zur Kraftquelle wird, muss man sich ihr schrittweise annähern.
Kraftquellen sind Bibeltexte. Hier greife ich besonders die Herrnhuter Losungen heraus. Erneut verweise ich auf Dietrich Bonhoeffer. Weil Menschen, mit denen er tief verbunden war, wie er täglich die Losungen lasen, stärkten sie ihn in der Einsamkeit der Gefängniszelle. So schreibt er an Eberhard und Renate Bethge: „Dass wir auch in diesem Jahr die Losungen austauschen konnten, war mir eine der größten Weihnachtsfreuden … Nun wird uns dieses Buch, das mir gerade in den vergangenen Monaten so wichtig war, auch das nächste Jahr hindurch begleiten, und wir werden, wenn wir es morgens lesen, besonders aneinander denken.“ (Widerstand und Ergebung, S. 101)
Kraft empfange ich beim Beten. Dabei ist beten mehr als nur reden mit Gott. Beten ist zuerst und vor allem eine Haltung. Beten kann ich auch ohne Worte. Ich bete, wenn ich in innerer Verbundenheit mit Gott mein alltägliches Leben führe.
Eine weitere Kraftquelle ist die Dankbarkeit. Danken kann ich für Gottes Güte in der Vergangenheit, danken kann ich aber auch im Vertrauen auf Gottes Gegenwart in der Zukunft.
All die genannten Kraftquellen fließen, weil sie ihr Wasser von der einen Urquelle, von Gott empfangen. Das Wasser der diversen Quellen ist von Gott geliehenes Wasser, es fließt so lange, wie diese Quellen benötigt werden. Manche Quellen fließen länger, andere kürzer. Irgendwann versiegt die eine oder andere Quelle.
Manche Quelle versiegt, weil Gott dem Menschen zumutet, ohne das Wasser dieser Quelle weiterzulaufen. Dann nutzt es nichts, den Blick zu blockieren und nach dem Wasser der versiegenden Quelle zu suchen. Dann nutzt es aber viel, nach dem Wasser Ausschau zu halten, das Gott uns schon längst aus einer anderen Quelle geben will.

Es gibt aber auch Quellen, deren Wasser nicht mehr fließen kann, weil wir ihren Lauf durch Geröll und Gestein im Verlauf unseres Lebens unterbrochen haben. Bei den Quellen, deren Wasserlauf wir selbst versiegen ließen, lohnt es sich, so lange nach ihnen zu graben, bis ihr Wasser wieder fließen und uns erfrischen kann. Die Kraft, um diese Quellen wieder zum Fließen zu bringen, empfangen wir von Gott, denn er ist es, der uns stark macht.

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