Zu vielen Tausenden hatten sie auf Plakate, weiße Betttücher oder auf Pflastersteine geschrieben: Je suis Charlie. Ich bin Charlie.
Von Anfang an hatte ich ein mulmiges Gefühl. Die Auflage der Satirezeitschrift entsprach nicht im Mindesten den Parolen. Dann sah ich Merkel und Hollande untergehakt. Sah links Netanjahu und - durch drei oder vier andere Potentaten getrennt - rechts Abbas. Das war im Januar. Ich hatte „Charlie“ bis dahin nicht gekannt.
Ich weiß nicht, wer im Mai auf wen schießt. (Während der letzten Korrektur dieser Ausgabe Anfang/Mitte Februar ist der „Minsker Gipfel“ noch nicht sicher, die Lage in der Ukraine furchtbar, in Syrien nicht minder und in Nigeria ebenso unübersichtlich wie „unmenschlich“. Mir fehlen die Worte.)
Ich bin mir aber sicher, dass das untergehakte Miteinander mit dem jeweiligen Blick auf die zahlreich vorhandene Presse nicht angehalten hat. Dafür werden Boko Haram, der Islamische Staat, die Wahl in Griechenland, die unterschiedlichen Parteien in der Ukraine, die Geheimdienste in West und Ost, die kundigen Erpresser, die Banken in den bekannten Ländern und die großen Konzerne weltweit schon sorgen.
Der Schulterschluss von Paris am 11. Januar war ein schwaches, mediengeformtes Zeichen. Die Millionen Marschierer schon eher. Sie gab es nur als Masse. Die Politiker gab es als Individuen. Umkehr der Werte. Wären Merkel, Hollande & Co. am Ende des Zuges gegangen, dann hätte ich vielleicht den Parolen getraut. Wo waren die Friedensnobelpreisträger, die führenden Köpfe der jeweiligen Opposition, die Repräsentanten der verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften - und alle anderen „Guten“ - oder gar Putin oder Assad - die „Bösen“? Wurden sie nicht gezeigt? Waren sie nicht da? Warum nicht? Eingeladen, ausgeladen? Habe ich sie damals übersehen? Ist Medienpolitik auch bei uns (nur) Machtpolitik?
Nach dem 11. Januar bin ich eher durcheinander als geordnet. Ich habe begonnen - verrückt -, die „Mittelsmänner“ zwischen Abbas und Netanjahu zu zählen. Es waren eh nur Männer. Händchenhaltend. Ein Bild für die Medien.
Doch: Wer sind sie?
Wenn einer sagt „Ich bin …“, dann hat das eine biblische Dimension. Wer das Neue Testament gelesen hat, assoziiert sofort die sieben „Ich-bin-Worte“ Jesu im Johannesevangelium. Doch das Ganze hat jüdische Quellen:
„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.“ (5. Mose 26,5)
Daneben so viele „Ich bin“-Worte aus der jüdischen Bibel. Worte von Abraham, von Mose, von Josua, von den Propheten. Sie haben sich gestellt, haben sich nicht medienwirksam - oder doch? - untergehakt. Hatten keine Fernsehminuten. Wurden ins Licht gestellt. Hatten nicht die Leuchten der Medien. Nur das Licht der erzählenden Worte. Vielleicht auch die eigenen, überlieferten Worte.
Was meint ein Mensch der Bibel, wenn er „ich bin“ sagt?
Ich bin einer wie du.
Ich bin einer unter vielen anderen.
Ich bin ein Bild für den Menschen.
Ich bin ein Bild für Gott.
Ich stehe ein.
Ich warte.
Ich bin ein Christ. Ich glaube an Jesus, von Gott gesandt.
Ich bin ein Jude. Ich warte auf den Messias.
(Ein Moslem: Ich bin ein Moslem. Ich glaube an den einzigen Gott? Man traut sich ja als Muslim, seinen Glauben nur noch im Ensemble der Moscheenbesucher zu bekennen.)
Ich bin gerne einer, der „ich“ sagt und schreibt.
Aber ich bin nicht Charlie.
Ich bin allerdings auch einer, der gerne lacht.
Ich bin einer, der sich für das Recht jedes anderen einsetzt, zu schreiben, was ihm wichtig ist. Ich traue der Vielfalt. Eine inhaltliche Zensur der PASTORALBLÄTTER wäre mir fremd. Ich sehe mich heute im norddeutschen Raum, morgen im Süden und übermorgen im Osten auf der Kanzel. Drei so unterschiedliche Predigtorte wie die Kanzeln selbst. Sie sind mir - wie die Altäre - heilige Orte.
Ich bin nicht Charlie.
Ich bin eher Jakob als Ismael. Bin keiner, den man verorten kann. Bin keiner, den man aufgrund seiner Hautfarbe erkennt. Eher aufgrund seines Bekenntnisses. Aber auch das hat seine Farben.
Ich bin in viele Länder gereist. Kenne den Islam von Reisen in zahlreiche islamische Länder.
Ich habe mich in einer Autobahnmoschee zwischen Kairo und Alexandria mit Gamal niedergekniet und in großer Ruhe gebetet. Ich habe nicht nur beim Fastenbrechen die Moschee in Wiesloch besucht, hatte dort meine Ecke neben einer Säule, betete wie die anderen Richtung Osten - das Vater unser, den Psalm 23 und viele persönliche Gebete. In unserer Wohnung in Dielheim hängt ein geknüpftes Bild aus Mekka, das mir einer der vielen Hodschas mitgebracht hat und zu meiner Verabschiedung als Gemeindepfarrer überreichte.
Ein anderer Hodscha hat mir ein Säckchen mit Steinen, die man in Mina auf den Teufel wirft, von seinem Haddsch mitgebracht.
Ich bin nicht Charlie.
Ich bin gerne einer, der „ich“ sagt und schreibt.
Dieses „ich“ kann ich mit Erfahrungen belegen, mit Wunden - von Narbe zu Narbe, das häuft sich mit den Jahren - beweisen und gelegentlich auch mit Bildern belegen.
Aber ich stehe jeden Tag auf mit Fragen und gehe in den Schlaf mit Gebeten.
Ich werde mich im Mai wie im Januar und Februar fragen lassen: Wer bist du?
Werde bei Gott anklopfen und Schlange stehen.
Muss keinen Ausweis vorzeigen.
Darf einfach der sein, der ich geworden bin.
Was ist das für ein Reichtum!
Was ist das Fremde und was sind die Fremden für ein Reichtum!
Ich muss nicht Charlie sein. Charlie in Ehren. Aber ich kannte Charlie nicht bis in den Januar.
Ich muss echt sein. Wenn ich die Bibel recht verstehe, darf ich echt sein. Muss keine Armbinde tragen und kein Plakat. Muss nicht Charlie sein oder BILD, muss nicht die SÜDDEUTSCHE lesen oder viele Freunde bei Facebook haben.
Ich darf echt sagen: Ich bin …
Und dann bleiben. Oder gehen. Oder mich unterhaken mit Fremden. Oder träumen vom Frieden. Oder mit den Enkeln spielen. Oder die Tür hinter mir schließen. Oder die Glocken läuten. Oder in der Tafel teilen, was andere mit uns geteilt haben.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern der PASTORALBLÄTTER, dass sie dem Mainstream der Medien entgehen können. Das ist schwierig genug. Und dass sie die „Ich bin“-Rede nicht nur umdrehen können in die Frage: „Wer bist du?“ Dass sie eben das „Umdrehen“ als biblische Chance verstehen. Ich weiß, das ist schwierig.