Der Monatsspruch im September 2015

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen
Matthäus 18,3

Alles hat seine Zahl. Gerade wurdest du geboren, schon wissen alle, die gar nichts von dir wissen, wie schwer (in Gramm), wie groß (in Zentimetern), wie gesund (in Prozent) du bist, und wie viel Uhr es bei dir war.

Alles hat seine Zahl. Von Anfang an. Auch du. Bevor du noch selbst mit den Fingern zählen kannst, hat man dir schon eine zehnstellige Identifikationsnummer aufgebrummt. Und die verlässt dich erst wieder am Ende deines Lebens. Die Botschaft ist klar: Du bist eine Zahl, also lerne auch du, deine Welt in Zahlen zu deuten und mit allem zu rechnen.

Also rechnest du mit allem und lernst in Zahlen. Und du lernst schnell: Drei Eiskugeln auf der Tüte des Bruders stellen eindeutig mehr da als deine einzelne. Und wenn der kleine Zeiger auf der Armbanduhr deines Vaters und sein Zeigefinger sich auf einer bestimmten Zahl treffen, musst du ins Bett.

Also lernst du nicht nur, du denkst bald in Zahlen: Noch dreimal schlafen, dann kommt die Oma. Das ist gut. Noch über hundertmal schlafen, dann hast du Geburtstag. Das ist scheußlich viel. Also lernst und denkst du nicht nur, du beobachtest bald in Zahlen: Wenn der Radionachrichtenmann morgens vom Kühlschrank herab sagt: Es ist sieben, wird die Mama hektisch. Wenn die Frau im Kindergarten sagt: Es ist schon fast fünf, hat der Papa vergessen, dich abzuholen?

Also lernst und denkst und beobachtest du nicht nur, du erfährst das Leben bald in Zahlen: Wenn deine Lehrerin sagt: Acht Fehler im Schreiben, schreit die Mama zu Hause. Wenn die Lehrerin am nächsten Tag sagt: Null Fehler im Rechnen, lobt dich der Papa.

Wenn der Kater viermal erbärmlich maunzt, steht die Mama auf, um ihn hinauszulassen. Wenn der Papa von seiner Bank einen Brief bekommt und dann am Küchentisch sitzt und gar nichts mehr sagt, sind es noch mindestens zehn Tage bis zum Ersten des nächsten Monats. Wenn die Oma von nebenan mehr als 80 ist, darf sie die Augen schon einmal zumachen, sagt die Mama. Wenn der Onkel von der Bäckerei gegenüber die Augen mit 48 zumacht, ist das ein Unglück, sagt der Papa.

Also lernst und denkst und beobachtest und erfährst du nicht nur, du beginnst sogar, in Zahlen zu lieben: Wenn deine Mama dich vor dem Einschlafen dreimal auf die Stirn küsst, liebt sie dich. Bringt dein Bruder eine Freundin einmal mit nach Hause, liebt er sie. Bringt er sie zweimal mit, will er sie heiraten. Dreimal ist bis jetzt noch keine gekommen. Ab und zu sagt der Papa zur Mama: Einmal in der Woche ist doch gar nicht so schlecht. Dann lacht die Mama und drückt ihn, und du weißt nicht, warum sie lachen, aber du weißt, sie haben sich immer noch gern.

Und dann machst du Hausaufgaben und denkst an die ganzen Zahlen und du siehst sie groß und bunt vor dir durch den Raum schweben. Und du weißt, dass alle ganz wichtig sind und sich in deinem Leben breitmachen und von morgens bis abends von dir beachtet und berechnet sein wollen, weil das doch so wichtig ist für dein Leben.

Und du siehst, dass draußen jetzt die Sonne scheint, und dass die kleinen Steine, die der Nachbarjunge gegen dein Fenster wirft, dir gelten: Komm endlich raus, lass uns spielen! Und das Herz schlägt dir höher, und du schlägst das Rechenheft zu und das Rechnen in den Wind und rennst hinaus zu ihm in die Sonne, dieser Nachmittag ist für dich wie ein kleines Leben. Du legst dein Gesicht auf den warmen Stein einer Mauer, entdeckst den Geruch des frühen Herbstes, der Blätter, des Steines, und du begrüßt eine Ameisenfamilie, die gerade an deiner Nase vorbeiläuft. Du lässt dir Geschichten erzählen vom Wind und Schattenspiel in den Ästen des großen Baumes über dir. Und der alte Mann, der drüben auf der Bank in seinem Buch liest, ist ganz bestimmt ein Zauberer. Und du liebst diesen Moment und die Tiere und die Pflanzen und den alten Mann, und viel später wirst du verstehen, was Jesus einmal zu seinen Jüngern sagte: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wie unberechenbar schön und zahlenlos muss es im Himmelreich sein, wo Gott dich bei deinem Namen ruft, wo alles Aufrechnen keinen Sinn macht, wo du dich nur noch wundern kannst. Hörst du die kleinen Steine am Fenster?

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