Ein schmales Evangelium

Ich weiß, es ist ein schmales Evangelium.
Die Musik darüber ist größer.
Die Kirchen darüber sind mächtiger.
Die Bücher darüber sind kaum zu zählen.
Doch das schmale Evangelium Jesu Christi, von dem ich als meinem
Freiheitswort erzähle, hat nicht wenige Menschen zur Freiheit befreit.

Als in der Zeit eines kulturell gar nicht so „finsteren“ Mittelalters Bauern, Handlanger, Söldner, Verarmte und Ausgesonderte sich erhoben, um die mindesten Menschenrechte einzufordern; als nicht wenige Laute und Widerspenstige, Überzeugte und Waghalsige ihr Leben im Namen Gottes auf Scheiterhaufen, in Haft oder an der Wand verloren, andere schwer geschunden wurden ob ihrer Freiheitsliebe, da traute sich ein „Mönchlein“ des Augustinerordens, Widerspruch einzulegen: Martin Luther.
Intellektuelle - und Martin Luther war im Prinzip ein Intellektueller - legen in der Regel wortreich und gebildet Widerspruch ein. Luther schrieb 95 Thesen, ließ seine Einwände gegen Ablass, Papst-Macht und knechtenden Glauben breit verteilen. Heute würde man sich sämtlicher E-Mail-Adressen und gar der sozialen Netzwerke bedienen. Luther hatte weniger Adressaten, wandte sich also an die „Wortreichen“ oder die „Fürsten“ seiner Zeit - und wartete ab, ob der Zunder brennen würde.
Und der Zunder brannte. Gab es doch viele, die sich nach Freiheit des Dienstes, des Wortes, der Kirche und ihrer Familie sehnten. Es war jedenfalls eine sehr bunte „Anhängerschaft“, die sich seit 1517 auf Martin Luther berief, seit er also am 31. Oktober historisch nicht nachweisbar seine 95 Thesen an die Eingangstür der Wittenberger Schlosskirche schlug oder - weniger spektakulär - diese Thesen an ein erlesenes Publikum schicken ließ. Heute dreht man großartige Filme, schreibt Bücher und hält Reden über diese Zeit. Und doch: Sie ist uns allen fremd.
Also frage ich: Gibt es heute ähnliche Bewegungen? Ähnliche Verheimatungen, Verhärtungen, Begeisterungen und Spielarten des Glaubens? Könnte heute ein Konzil, ein Papstwort, ein evangelischer Widerruf oder eine utopistische Vision Ähnliches bewirken wie damals die Reformation?
Es käme wohl auf die Bedingungen an, wie damals auch. Ich glaube nicht, dass Menschen heute anders sehnen als damals, anders lieben, anders leiden, anders rechnen, anders denken. Natürlich gibt es da zeitbedingte Nuancen. Aber was brauchen die Menschen? Was speist ihre Sehnsucht und lässt ihre Suche an ein Ende kommen?
Menschen wollen einen verlässlichen Hinweis auf eine Welt über den eigenen und fremden Tod hinaus. Menschen wollen einen verlässlichen Halt gegen die Angst, die das Leben mit sich bringt, erst recht gegen das Streiten, das Haben und Verlieren, das Sterben und den Tod. Menschen wollen eine gültige Zusage, dass ihnen die erkannten und bereuten Fehler wirklich vergeben werden. Menschen wollen - darf ich das so simpel schreiben? -, dass sie „liebgehabt“ und „als Geliebte bleiben“ werden.

Religion hat als wichtigste Aufgabe, den Menschen die Angst zu nehmen. Der Gegensatz zur „Sünde“ ist nicht das moralisch richtige Verhalten. Der Gegensatz zur Sünde ist der Glauben. Angst lähmt. Der Glaube macht frei, frei zur Umkehr. Er verschafft mir die nötige Ruhe und Distanz zu dem, was droht. Was es so schwer macht, Gott zu vertrauen und seine Liebe anzunehmen, das ist die Angst.
Wer in diese meist doch unfreie, in zwei Dritteln geschundene Welt tritt mit einem „evangelischen“ Anspruch, der tritt nicht nur für die Freiheit an, sondern auch, um Menschen die Angst zu nehmen. Und nichts Wichtigeres gibt es. Nichts, was dem schmalen Evangelium mehr entspräche.

Evangelisch sein - das ist ein Kämpfen, Beten, Argumentieren, Abstimmen, Singen gegen die Angst.
Evangelisch sein ist eine innere Haltung, die die Menschheitsgeschichte durchzieht und prägt - lange vor der Geburt des Mannes aus Nazaret und lange nach unserem eigenen Tod.

Ich bin evangelisch - das heißt:
Ich bin frei.
Ich bin ein Mensch.
Ich bin es wert, geliebt zu werden.
Ich mache Fehler.
Ich bin da.
Ich war da.
Und es gibt einige,
die meinen, das ist und das war gut so.

Und zu denen gehört - wenn du genau hinschaust - dieser Hungerleider und Armenprediger, den sie damals aus Nazaret davongejagt haben. Jesus haben ihn die Römer genannt. Jeschua die Eltern. Christus die Anhänger. Er ist weite Wege gegangen und hat nicht vergessen, dass er auch für mich unterwegs war.

Die Reformatoren kannten das Himmelsgewölbe mit seinen unzählbaren Sternen und machten sich auch ihre Gedanken dazu. Doch dann lenkten sie den Blick zurück auf die wenigen Quadratkilometer Leben, in denen sich unser Alltag, unsere Liebe, unsere Irrungen und unsere Größe ereignen. Hier auf diesem wunderbaren und - das wussten sie noch nicht - blauen Planeten sollten Menschen dem Mann aus Nazaret nachfolgen, sollten sie niemanden „Vater“, gar „Heiliger Vater“ nennen als den, den der Nazarener selbst „Vater“ nannte, sollten sie keinen anderen Herren dienen als dem einen im Himmel, auch wenn sie sich aus Unkenntnis unter „Himmel“ noch anderes vorstellten.

Ich weiß, es ist ein schmales Evangelium. Doch es reizt seit Jahrhunderten zu großartigsten Ideen, Büchern, Kunstwerken und Liedern. Das schmale Evangelium wird uns überdauern, prägt seit Jahrhunderten unsere Predigt, schließt mit Ängsten ab und weitet den Glauben. Paulus schrieb vor knapp 2000 Jahren: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“
Alles ist gesagt. Wir dürfen übersetzen. Damit heute Menschen aufatmen, der Angst Fersengeld geben und der Liebe trauen.

Diese Gedanken stammen mit Genehmigung des Verlags wesentlich aus meinem Buch Gerhard Engelsberger, Aus Überzeugung evangelisch, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-7918-8030-3. Ich weise gerne zum Gebrauch für das Reformationsjubiläum 2017 darauf hin.
Da ich mehrmals zu einem Vortrag zum Thema eingeladen wurde, biete ich einen Vortrag mit Gespräch (nach Themenabsprache) auch in den Pfarrkonventen/Pfarrkonferenzen der PASTORALBLÄTTER-Abonnenten an. Bei Pfarrkonventen bringe ich gerne auch für alle Teilnehmenden ein oder zwei kostenlose Exemplare der PASTORALBLÄTTER mit.

Mit guten Wünschen für Ihre Dienste
und mit Dank an alle Autorinnen und Autoren einer so vielfältigen und beeindruckenden Monatsausgabe der PASTORALBLÄTTER.

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