Im Grunde wollte er seinen Abend nicht hier verbringen. Aber nachdem in der Firma als Dankeschön die Karten angekommen waren und das ganze Team begeistert zugesagt hatte, wollte er sich gerade jetzt nicht herausziehen. Seine Firma hat die Restaurierung der Klosterruine mitfinanziert, aber eigentlich verspürt er wenig Lust, hier seine Freizeit zu verbringen. Zumal er gar nicht weiß, was ihn eigentlich hier erwartet. Er war noch nie bei einem Passionsspiel. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Aber auch dieser Abend würde vergehen.
Als plötzlich das Licht um ihn herum ausgeht, merkt er erst, wie dunkel es eigentlich schon ist. Vorne auf der Bühne beginnt ein Spiel, das er zunächst nur schwer einordnen kann. Einige Sätze kommen ihm bekannt vor. Vielleicht sind sie eine Erinnerung aus dem Kindergottesdienst, den er immer besucht hat, wenn er ein Wochenende bei seiner Großmutter verbracht hat
Immer wieder schweifen seine Gedanken ab, er ist nicht richtig bei der Sache. Das Stück geht schon eine ganze Zeit, da blickt er wieder nach vorne. Ein Mann, der Hauptdarsteller wohl, kniet auf dem Boden. Eine Stimme singt: Seht hin, er ist allein im Garten. Er fürchtet sich in dieser Nacht, weil Qual und Sterben auf ihn warten und keiner seiner Freunde wacht. Er sieht dem Mann ins Gesicht.
Ganz plötzlich erinnert er sich an diesen Gesichtsausdruck. Er hat ihn schon einmal gesehen. Vor einigen Monaten blickte er ihm aus dem Spiegel auf der Herrentoilette seiner Firma entgegen. Es war an dem Morgen, als die Nachricht auf seinem Schreibtisch lag. Sie enthielt nur ganz wenige Sätze. Er sollte zu dem Vorwurf Stellung nehmen, einer Kollegin einen folgenschweren Fehler unterstellt zu haben. Und er wusste sofort: Was ihm als probates Mittel erschien, selbst den nächsten Karriereschritt zu tun, würde ihm auf die Füße fallen. Es war nur eine kleine Unwahrheit gewesen, aber die Kollegin hätte sie fast den Job gekostet. Sie hatte sich erfolgreich gewehrt. Hier in der Klosterruine saß sie zwei Plätze neben ihm.
EG 95,1 singen
Als er noch über diese schweren Wochen nachdenkt, bemerkt er, dass mit dem Mann auf der Bühne etwas passiert. Einige Männer in Soldatenkleidung stürmen heran, überwältigen den Reglosen. Die Stimme singt, was die Zuschauer sehen: Seht hin, sie haben ihn gefunden, sie greifen ihn, er wehrt sich nicht. Dann führen sie ihn festgebunden dorthin, wo man sein Urteil spricht.
Doch, er kennt die Geschichte. Er erinnert sich. Er erinnert sich auch daran, dass er sich schon als Kind darüber wunderte, dass dieser Mann da vorne auf der Bühne sich nicht zur Wehr setzt. Er hingegen hat gekämpft. Immer wieder hat er abgestritten, dass er damit etwas zu tun hat. Immer wieder hat er versucht, seinen Anteil an der Sache herunterzuspielen. Aber immer wieder hat er selbst Zweifel gehabt: Vielleicht hat er doch den Bogen überspannt? Ja, vielleicht hat er doch einen großen Fehler gemacht?
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Indessen will die Qual auf der Bühne kein Ende nehmen. Der Mann hat keinen Fürsprecher. Schlimmer noch, er wird auf unterschiedliche Arten gepeinigt. Und wieder fordert die Stimme auf, hinzusehen: Seht hin, wie sie ihn hart verklagen, man schlägt und spuckt ihm ins Gesicht und will von ihm nur Schlechtes sagen. Und keiner ist, der für ihn spricht.
Er denkt an die abschätzigen Blicke der Mitarbeiter, wenn er zum Mittag in die Kantine kam. Natürlich wussten alle davon. Niemand stand auf seiner Seite. Einmal stand sogar ein Kollege auf, als er sich an den Tisch setzte. Früher waren einige Kollegen immer mal nach der Arbeit ausgegangen und hatten einen langen Arbeitstag ausklingen lassen. Jetzt wurde er dazu nicht mehr eingeladen. Das Ärgerlichste aber waren die Zettel mit den kleinen Hinterhältigkeiten und Lästereien, die man ihm anonym auf den Schreibtisch legte.
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Das Spiel auf der Bühne nähert sich seinem dramatischen Höhepunkt, das spürt er. Je weiter sich die Stimmung aufpeitscht, desto ruhiger wird scheinbar der Mann auf der Bühne, um den sich alles dreht. Das Offensichtliche klingt auch in den Ohren: Seht, wie sie ihn mit Dornen krönen, wie jeder ihn verspotten will, wie sie ihn schlagen und verhöhnen. Und er, er schweigt zu allem still.
Wenn man doch nichts mehr ändern kann, dann kann man nur schweigen. Irgendwann hat er sich nicht mehr erklärt. Irgendwann ist er nur noch ins Büro gekommen - es war ja ein Glück, dass er seinen Arbeitsplatz nicht ganz verloren hat. Er hat seine Arbeit gewissenhaft verrichtet und seine Pausen alleine verbracht. Den Kontakt zu den Kollegen hat er nicht mehr gesucht. Erst hatte er gehofft, dass sich die Wogen glätten oder dass die Kollegen den Vorfall einfach vergessen würden. Mit der Zeit aber merkte er, dass es ihm manchmal schon gleichgültig war.
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Eine ganze Weile sitzt er nur noch so da. Scheinbar folgt er dem Schauspiel und ist doch eigentlich ganz mit sich und seiner Geschichte beschäftigt. Er merkt, wie anstrengend es ist, das alles noch einmal vor Augen geführt zu bekommen. „Seht hin.“ Er ist froh, dass es eine Pause gibt. Er hat sich schon lange nicht mehr getraut, jemandem so richtig in die Augen zu sehen. Jetzt aber lässt er seinen Blick über die Kollegen schweifen, die sich miteinander unterhalten. Plötzlich begegnet ihm der Blick seiner Kollegin. Sie sieht aus, als ringe sie innerlich mit sich. Dann beugt sie sich zu ihm hinüber:
„Wir gehen nach der Aufführung noch etwas essen. Kommst du mit?“
Schlussgebet:
Gott, Du bist ein Mensch geworden.
Du kennst unsere Nöte und unsere Ängste.
So kommst Du uns nahe.
Hilf uns zu Mut und Kraft, uns selbst zu erkennen,
damit wir zu denen werden,
die wir sein können.