„Atemlos durch die Nacht ...“ - keine Party, kein Jahrmarkt, keine Schlagersendung, ohne dass uns Helene Fischer mit dieser Zeile in den Ohren dröhnt: „Atemlos durch die Nacht. Spür‘, was Liebe mit uns macht ...“
Dieser Ohrwurm beschreibt ein Lebensgefühl.
Das Gefühl zweier Frischverliebter. Atemlos tanzen sie durch die Nacht. Atemlos ziehen sie durch die Straßen und Clubs ihrer Stadt. Atemlos taumeln sie durch eine schwindelnde Gefühlswelt von Verlangen und Zärtlichkeit, Freiheit und Lust, Traum und tausend Glücksgefühlen. Und die beiden finden das so herrlich, dass das Ganze in dem Satz mündet: „Nein, wir wollen hier nicht weg, alles ist perfekt.“
Ist es wirklich perfekt, atemlos zu sein?
Ganz ehrlich: Mir wird mulmig bei dem Gedanken, atemlos durch eine Partynacht zu taumeln. Das liegt sicher auch daran, dass ich - mit Augenzwinkern - eher zu den Älteren gehöre und so eine Partynacht eher anstrengend fände. Vor allem aber wird mir deshalb mulmig, weil ich mich frage: Wie kann jemand es toll finden, atemlos durch das Leben zu taumeln? Tun wir das nicht sowieso schon ständig? Nicht nur nachts? Nicht nur auf Partys? Nicht nur, wenn wir frisch verliebt sind?
Atemlos - das ist nicht nur das Gefühl zweier Frischverliebter. Es ist für viele von uns bereits ein allgegenwärtiges Lebensgefühl. Unser Leben kommt uns tatsächlich oft atemlos vor.
In atemberaubendem Tempo jagen wir durch den Kalender. Wissen im Januar schon, wohin wir im Sommer reisen; spätestens im Juni ist der Vorausplaner des kommenden Jahres schon voll; Ende August, wenn uns in den Supermärkten die ersten Nikoläuse grüßen, wird es Zeit, den neuen Kalender einzurichten. Atemlos durch das Jahr.
Wir sind stets auf dem neuesten Stand der Dinge - ob wichtig oder unwichtig - durch Facebook, Twitter und Instagram. Immer erreichbar durch WhatsApp und SMS. Kaum noch ein Berufstätiger kann es sich erlauben, im Urlaub nicht erreichbar zu sein. Atemlos durch die Arbeitswelt. Atemlos durch die Welt des World Wide Web.
Atmen ist aber lebenswichtig. Und Atemlosigkeit ist
auf die Dauer tödlich.
„Ich muss mal an die Luft“ - im übertragenen Sinne ist das unsere Sehnsucht nach Freiheit von der Atemlosigkeit. Wir wünschen uns eine Atempause im Alltag, Luft zum Atmen in einer Beziehung, und im Urlaub endlich mal Zeit und Muße, aufzuatmen, tief durchzuatmen.
Atem ist Leben. Atem ist ein Gottesgeschenk. Viel mehr noch - es ist das erste Geschenk Gottes an den Menschen: „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (1. Mose 2,7)
Atem, damit wir leben. Genau das ist es, wonach wir uns in der Atemlosigkeit mancher Tage so sehr sehnen. Und genau das schenkt uns Gott. Nicht nur am Tag der Schöpfung, sondern jeden Tag neu.
Das erste Gebot, das uns dazu auffordert, genau zu prüfen, was das Wichtigste in unserem Leben ist, was uns beherrscht, was uns treibt, lädt uns ein, frei zu sein, durchzuatmen. „Du sollst frei sein ...“, so umschreibt der Theologe Ernst Lange den Sinn des ersten Gebotes, „Du sollst frei sein von allen Mächten, die sich zum Herrn über dich erheben wollen: sei es die Macht des Geldes, der öffentlichen Meinung oder der Angst vor den Unabwägbarkeiten des Lebens. Ich bin der Herr, der die ganze Welt regiert.“
Wir dürfen durchatmen und frei sein. Denn Gott, der uns den Atem gab, lädt uns dazu ein.
1. Gott gab uns Atem, damit wir leben.
Er gab uns Augen, dass wir uns sehn.
Gott hat uns diese Erde gegeben,
dass wir auf ihr die Zeit bestehn.
Wir dürfen durchatmen und frei sein. Was für eine schöne und befreiende Botschaft! Genau diese Freiheit, die wir haben - vor Gott und auch vor anderen Menschen - hat auch ihre Schattenseite.
Das Grundgesetz garantiert uns eine freiheitliche demokratische Grundordnung. Das ist gut. Das ist richtig und auch wichtig.
Leider hat dieses System aber einen großen Nachteil: Unsere Selbstbestimmung wird so groß geschrieben, dass Ideale dahinter zurückstehen müssen.
Ob das nun humanistische Ideale sind wie Menschlichkeit oder die Ehrfurcht vor dem Leben oder christliche Ideale wie Menschenliebe, Fremdenfreundlichkeit und die Bereitschaft zum Teilen. Sie treten immer häufiger in den Hintergrund. Und das Ich jedes Einzelnen wird zum Primaten.
Kennen Sie die „Drei Affen“?
Das sind auch solche Primaten.
„Schau nicht hin!“, wenn dich einer anblickt hilfesuchend und bittend, wenn einer vor deinen Augen gedemütigt wird, wenn einer vor deinen Augen erfriert, verhungert, zugrunde geht. „Schaue nicht hin!“, sagt der selbstbestimmte Primat in uns. Und wir verschließen die Augen.
Lieber lesen wir einen Artikel in der Zeitung, der uns nicht so deprimiert. Oder wir fliehen in den Urlaub, um endlich mal wieder was Schönes zu sehen. Sonne, Strand, Meer. „Schaue nicht hin!“, sagt der selbstbestimmte Primat in uns. Und wir verschließen die Augen.
„Hör nicht hin!“, wenn dich Nachrichten erreichen von Kriegen und Katastrophen, von Hungersnöten und Verfolgungen. Hör nicht hin, denn du kannst ja sowieso nichts dran ändern. „Hör nicht hin!“, sagt der selbstbestimmte Primat in uns. Und wir halten uns die Ohren zu.
Lieber zappen wir in ein anderes Fernsehprogramm, das lustiger ist oder spannender. Oder machen das Radio aus; lassen lieber eine CD laufen. Da bekommen wir wenigstens keine Nachrichten auf die Ohren.
„Sag nichts!“, wenn vor deinen Augen ein Mensch ungerecht behandelt wird. „Sag nichts!“, wenn dir die Stammtischargumente um die Ohren fliegen von Überfremdung und der Sehnsucht nach einem starken Mann, der endlich mal wieder aufräumt in Deutschland.
„Sag nichts!“ Du könntest ja zwischen die Fronten geraten und dir Feinde machen. Stillschweigend tolerieren wir, dass andere Unsinn reden. Und Unrecht tun. Schweigen ist halt einfacher, als sich den Mund zu verbrennen.
„Sag nichts!“, sagt der selbstbestimmte Primat in uns. Und wir schweigen.
In Konfliktsituationen führt diese Geisteshaltung aber dazu, dass Menschen, die Hilfe brauchen, keine Hilfe bekommen. Weder von uns noch von anderen. Das hat Gott sich anders vorgestellt.
2. Gott gab uns Ohren, damit wir hören.
Er gab uns Worte, dass wir verstehn.
Gott will nicht diese Erde zerstören.
Er schuf sie gut, er schuf sie schön.
Jede Gabe ist auch eine Aufgabe. Wer sehen kann, der soll auch hinsehen und helfen. Wer hören kann, der soll auch hinhören und erhören. Wer reden kann, der soll auch widersprechen und vom Guten überzeugen.
Gerne hören wir das nicht. Wer lässt sich schon gerne in die Pflicht nehmen. Wenn wir aber ernsthaft Christen sein wollen, und die Freiheit und den Atem Gottes gerne und dankbar annehmen, dann sollten wir ihm auch etwas dafür zurückgeben: unser Engagement für diese Welt, unsere Liebe zu den Menschen, unser Herzblut für unsere Kirche.
Es gibt einen eindrücklichen Text eines unbekannten Beters aus dem 14. Jahrhundert:
Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,
um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße,
um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen,
um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,
um Menschen an seine Seite zu bringen.
Diese Worte umschreiben genau den Anspruch, den unser Glaube (bei allem Zuspruch) in sich trägt: Die Freiheit, die Gott uns schenkt, verpflichtet uns, unsere Gaben zum Wohl anderer einzusetzen. Die Augen. Die Ohren. Den Mund. Die Hände und die Füße.
In einem greift dieses Bild zu kurz: Wir sind doch nicht allein gestellt in dieser Welt. Nicht allein gelassen mit unserer Verpflichtung, als Christen in dieser Welt Zivilcourage und Mut zu beweisen.
In dem Lied von Eckart Bücken, das wir heute bedenken, steht diese Zusage immer im zweiten Teil der Strophe. Wir sind gerne geneigt, diese guten Gedanken leicht zu überlesen, darum hören wir genauer hin, was sie sagen:
„Gott hat uns diese Erde gegeben, dass wir auf ihr die Zeit bestehn. Gott will nicht diese Erde zerstören. Er schuf sie gut, er schuf sie schön. Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.“
Unser Leben ist nicht nur Pflicht und Mut und Zivilcourage. In allererster Linie ist unser Leben ein Gottesgeschenk. In seinen Händen liegt die Welt. Auch wir liegen in seiner Hand. Und mit uns alles, was wir tun mit Augen, Ohren, Mund, Händen und Füßen.
3. Gott gab uns Hände, damit wir handeln.
Er gab uns Füße, dass wir fest stehn.
Gott will mit uns die Erde verwandeln.
Wir können neu ins Leben gehn.
Gebet 1:
Gott, mach uns unruhig, wenn wir selbstzufrieden sind.
Wenn wir uns am sicheren Hafen und bereits am Ziel glauben, wenn wir allzu dicht am Ufer entlangsegeln, wenn wir uns damit abfinden, dass unsere kleinen Träume sich sicher erfüllen.
Gott, mach uns unruhig, wenn wir über die Fülle der Dinge, die wir haben und wollen, den Durst nach Wasser des Lebens verloren haben, wenn wir, verliebt in unsere eigenen Pläne, aufgehört haben, auf Deinen Willen zu horchen, wenn wir über allen Anstrengungen, die wir für unsere Zukunft investieren, Deine Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde übersehen.
Gott, rüttle uns auf, damit wir kühner werden und uns hinauswagen auf das weite Meer, wo uns die Stürme entgegenwehen und wir ganz auf Deinen Schutz vertrauen können, wo wir mit schwindender Sicht auf das Ufer die Sterne aufleuchten sehen.
Gott lass uns neu beginnen in Deinem Namen, der Du die Horizonte unserer Hoffnung weit hinausgeschoben und die Beherzten aufgefordert hast, Dir zu folgen.
Gott, lass die Liebe in uns zu einem Feuer werden, das uns ergreift, dass alle Feigheit verbrennt und Dich aufleuchten lässt, der Du das Licht bist und die Liebe.
(Gebet einer Basisgemeinde Brasiliens)
Gebet 2:
Von Worten und Taten, die Unklares vertuschen und Unrecht verschweigen,
Alle: Mach uns frei, o Gott.
Von Ängstlichkeit, die sich an Traditionelles klammert, weil sie der Freiheit nicht vertraut,
Alle: Mach uns frei, o Gott.
Von einem Glauben, der Fragen verschweigt und Zweifel übertüncht,
Alle: Mach uns frei, o Gott.
Von hartherzigen Urteilen über Zweifelnde und Andersdenkende
Alle: Mach uns frei, o Gott.
Von allem, was uns davon abhält, wahrhaftige und glaubwürdige Christen zu sein,
Alle: Mach uns frei, o Gott.
Mach uns frei und führe uns zu Dir.
Zur Freiheit und zur Vergebung, die wir bei Dir finden,
Alle: Führe uns, o Gott.
Bei der schweren Aufgabe, Zweifel zu ertragen und Wahrheiten anzuerkennen,
Alle: Stehe uns bei, o Gott.
Bei der schweren Aufgabe, diese Welt zu ertragen, wie sie ist, und Wege zu finden, ihr zu helfen,
Alle: Stehe uns bei, o Gott.
Bei der schweren Aufgabe, den Feind zu lieben, für den Frieden zu kämpfen, und für die Wahrheit einzutreten,
Alle: Stehe uns bei, o Gott.
Mache uns frei, und führe uns den richtigen Weg heute und in den künftigen Tagen.
(Gebete für den Frieden des Ökumenischen Rates der Kirchen, 2004)
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