Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden.
2. Mose 15,2
Kühn ist das Lied, das Mose und die Israeliten nach dem Durchzug durch das Schilfmeer anstimmen. Kühn ist es deswegen, weil ihnen die Angst noch in den Gliedern steckt. Gerade noch sind sie davongekommen. Es ist noch nicht lange her, dass die Menge Mose beschimpft hat, warum er auf diese unsägliche Idee kommen musste, sie aus Ägypten wegzuführen.
Nun sind sie fürs Erste davongekommen. Der Wind hatte mitgespielt und die Truppen des Pharaos kamen nicht so schnell hinterher wie gedacht. „Glück gehabt“, könnte man meinen.
Aber sie stimmen ein kühnes Lied an, das nun gerade Gott, den Herrn, als ihren Retter preist: den, der scheinbar so lange tatenlos zugesehen hatte, als der Pharao sie wie Sklaven behandelt hatte.
Bald aber kippt die Stimmung wieder. Kaum ist das Lied gesungen, geht das Meckern und Gezeter wieder los. Die Nahrungssituation ist schwierig, trinkbares Wasser knapp. Da ist nichts mehr mit dem „Halleluja“ und „Gott ist mein Retter“. Es war eben ein kühnes Lied gewesen.
Offensichtlich war schon in biblischen Zeiten das Eingreifen Gottes längst nicht immer so eindeutig und anhaltend greifbar, wie die Menschen es sich gewünscht hatten. Selbst bei den großen Gottestaten war das Eingreifen Gottes nur kurz wahrnehmbar - wie bei einer Sternschuppe, die schnell verglüht und deren Anblick niemand konservieren kann.
Wie nun reimt sich dieser Vers auf unsere Erfahrungen? Passt er genau? Oder haben wir eher das Gefühl, hier habe jemand den Mund etwas zu voll genommen? Manch einem sprechen diese Worte vielleicht aus dem Herzen. Dann kann ich gut einstimmen in dieses Lied, weil ich Vergleichbares erfahren habe, zum Beispiel, dass Gott mich in einer gefährlichen Situation bewahrt hat. In solchen Momenten passt solch ein Lied genau.
In anderen Lebenssituationen ist es sperriger. Da stehen Menschen, im Bild gesprochen, noch vor der Herausforderung, ein bedrohliches Meer zu durchqueren. Und manchmal haben sie die Erinnerung mit im Gepäck, dass Gott in der Vergangenheit scheinbar nicht auf ihre Bitten reagiert hat.
Diese Liedzeilen laden dazu ein, sie mitzusingen oder mitzusprechen - auch dann, wenn meine eigene Erfahrung ganz anders aussieht. Ein solches Singen kann trotzig sein: „Und doch halte ich daran fest, dass Gott für mich da ist, er mein Retter ist.“ Oder es kann die Klangfarbe der Hoffnung annehmen: „Ich lasse mir diese Zuversicht nicht nehmen, dass Gott noch alles zum Guten wenden wird.“
Eine Hilfe kann es sein, wenn ich dieses Lied nicht alleine vor mich hin singen oder brummen muss, sondern andere mit einstimmen. Da kann ich mich vom Gesang der anderen anstecken lassen, werde von ihren Stimmen getragen, selbst wenn mir persönlich gar nicht nach Singen zumute ist.
Als Mose und die Israeliten ihr Lied beendet hatten, heißt es, dass Mirjam sich eine Trommel griff und das Lied, vielleicht in einer Variation, aufs Neue begann. So geht dieses Lied hin und her. Im Angesicht einer ungewissen Zukunft vergewisserten sich die Israeliten untereinander, dass Gott auf ihrem Weg mitging.
Dass sich solcher Glaube an Gott nicht jeden Tag mit dem eigenen Erleben deckt, das ist eine Erfahrung, die Glaubende seit Tausenden von Jahren machen. Schon auf der anderen Seite des Schilfmeers, als gerade die letzten Takte dieses Liedes verklungen waren, war es bald aus mit der Jubellaune.
Auch in unserem Leben lässt sich Gottes Eingreifen nicht immer fassen. Aber die Worte der Bibel ermuntern uns, darauf zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass Gott selbst wahr macht, wovon dieses kühne Lied singt: dass Gott rettet, hilft und bewahrt. So wie er das Volk Israel am Ende in sein eigenes Land führte und den, der am Kreuz hing, zu neuem Leben auferweckte.