Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
2. Mose 33,19
Gott, wo bist du? Ich gehe mit wachen Augen durch die Welt, doch gesehen habe ich dich nicht. Ich war im Wald, doch hinter keinem Baum konnte ich dich finden. Ich saß auf einer Bank im Großstadtgetümmel, doch du bist nicht an mir vorübergelaufen. Ich ging am Meer entlang, doch selbst am äußersten Horizont konnte ich dich nicht entdecken. Gott, wo bist du? Ich gehe mit wachen Augen durch die Welt. Doch gesehen habe ich dich nicht.
Gott sehen. Ein vermessener Wunsch, oder nur allzu verständlich? Gott mit eigenen Augen sehen. Das wäre doch was. Alle Zweifel wären mit einem Mal beseitigt. Endlich wäre der Beweis erbracht: Gott existiert. Gott sehen. Ein alter Wunsch. Selbst Menschen, denen eine besondere Nähe zu Gott zugeschrieben wird, ist dieser Wunsch nicht fremd. Mose wagt es sogar, sich mit dieser Bitte direkt an Gott zu wenden: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“ (2. Mose 33,18). Und wie reagiert Gott? Er antwortet tatsächlich! Er geht auf die Bitte ein. Auf seine Art.
Zunächst einmal ist Gottes Antwort ein deutliches Nein. Er erfüllt Moses Bitte nicht. Zumindest nicht so, wie Mose sich das vorstellt. Gott zeigt sich nicht von Angesicht zu Angesicht. Gott sehen, wie man einen Menschen vor sich sieht, das bleibt Mose verwehrt. Und zwar aus Fürsorge, denn „kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (2. Mose 33,20). Gleichzeitig geht dem Nein ein zweifaches Ja voraus: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (2. Mose 33,19). Gott sagt Ja. Gleich zweifach. Das erste Ja lautet: „Ich will vor dir kundtun den Namen des Herrn.“ Gottes Name ist sehr schön und aussagekräftig, nämlich: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Gott gibt sich mit Namen zu erkennen. Namen haben eine Bedeutung, sie sagen etwas über den Namensträger. Gottes Name, Gott selber, er steht für Gnade und Erbarmen. Diesem ersten Ja steht ein zweites Ja an der Seite: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen.“ Gott sehen, wie man einen Menschen vor sich sieht, das bleibt Mose verwehrt. Aber dennoch lässt sich Gott erkennen. Seine Güte und all das Gute, das er wirkt, das kann man sehen.
Gott geht auf Moses Bitte ein. Auf seine Art. Mit einem Nein und einem zweifachen Ja. Ja, Gott lässt sich erkennen durch seine Gnade, sein Erbarmen und seine Güte. Aber nein, Mose kann Gott nicht wie einen Menschen vor sich sehen.
Schließlich macht Gott aber selbst diesen Schritt auf uns Menschen zu. In seinem Sohn Jesus Christus ist Gott Mensch geworden. In Jesus Christus zeigt er sich uns als Mensch. Hier sind Gottes Gnade, sein Erbarmen und seine Güte strahlend hell erkennbar und erfahrbar: „Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14).
Gott sehen? Ja, Gott lässt sich sehen! Wir können seine Gnade, sein Erbarmen und seine Güte erkennen, am deutlichsten in Jesus Christus. Gott sehen. Vielleicht weniger mit den Augen als vielmehr mit dem Herzen. Denn, um es mit dem kleinen Prinzen zu sagen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Vielleicht versuchen wir es einmal mit dem Herzen.
Gott, wo bist du? Kann ich dich mit wachem Herzen sehen? Ich gehe durch den Wald, und zwischen den Bäumen lugst du hervor. Ich sitze auf einer Bank im Großstadtgetümmel, und du lächelst mir entgegen. Ich gehe am Meer entlang, und du winkst mir zu. Ich gehe mit wachem Herzen durch die Welt. Und tatsächlich. Ich kann dich sehen. Gott lässt sich finden.