Gott spricht: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.
Jeremia 31,3
„Ich liebe dich!“ Wie leicht kommen frisch verliebten Menschen diese Worte über die Lippen. Wie oft wird dieser Satz geradezu beschwörend gesprochen, um eine in die Krise geratene Liebesbeziehung an das Fundament zu erinnern, das zwei Menschen einstmals zusammengeführt hat. Und wie schnell kann aus dem Satz: „Ich liebe dich!“ der Satz: „Ich hasse dich!“ werden, wenn der eine oder die andere nicht mehr so funktioniert, wie man sich das im Stadium der Verliebtheit vorgestellt hat. Möglicherweise entspringt dieser Satz auch der Erkenntnis, dass der/die andere nicht mehr dem Bild entspricht, das er/sie zu Beginn der Beziehung von ihr/ihm hatte. Liebesbeziehungen haben vielfach mit einem Bild zu tun, das zwei Menschen voneinander haben oder das sie auf den anderen projizieren. Wunschbilder begründen nicht selten eine Ehe. Nicht eingelöste Wunschbilder können aber ebenso gut eine Ehe an ihr Ende führen.
Ist das mit der Liebesbeziehung zwischen Gott und uns Menschen auch so? Im 31. Kapitel des Propheten Jeremia lesen wir: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ Mit dieser Verheißung leitet der Prophet den Bund ein, den Gott mit seinem Volk, den Israeliten, erneuern will. Es sind Worte, die Gott an ein Volk richtet, das absolut nicht mehr dem Bild entspricht, das der Schöpfer sich vorstellte, als er die Menschen erschaffen hat.
„Ich bin der HERR, dein Gott ... Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So lautet die Formel, mit der Gott die Liebesbeziehung zu seinem Volk begründet. Am Befolgen dieser Formel waren die Israeliten schuldig geworden. Immer wieder hatte Gott sie gemahnt und aufgefordert, sich von den fremden Göttern, den Göttern der anderen Völker, abzuwenden. Nichts, aber auch gar nichts nutzten die Mahnungen Gottes. Die Israeliten wandten sich nicht nur von ihrem Gott ab und fremden Göttern zu, sie traten sein Wort auch mit Füßen und lebten, so als gäbe es die Gebote Gottes nicht. Immer wieder bittet Gott: „Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich bei euch wohnen, an diesem Ort.“ Gottes Wort enthält sowohl die Aufforderung zur Umkehr als auch die Verheißung seiner Gegenwart. Gott will den Menschen nahe sein, die er in einer Art „Liebeswahn“ zur Gemeinschaft mit ihm geschaffen hat. Er will sie begleiten und ihnen ein gutes Leben schenken. Gott hat ein Bild von den Menschen. Diesem Bild entsprechen die Menschen aber schon lange nicht mehr. Lange sieht Gott dem Treiben der Israeliten zu. Lange ruft er zur Umkehr. Aber einmal hat auch Gottes Geduld ein Ende.
War das nur damals so und ist das nur zwischen Gott und den Menschen so? Aus seelsorgerlichen und zwischenmenschlichen Gesprächen lassen sich Beispiele ableiten. Lange hat ein Mann gehofft, dass seine Partnerin sich verändert und wieder dem Bild entspricht, das er einmal von ihr hatte. Die große Liebe hat längst zu bröckeln begonnen, sie erhält mit den Jahren immer tiefere Risse. Irgendwann stürzt dann das gesamte Gebäude zusammen.
Geschieht Vergleichbares auch mit der Beziehung zwischen Gott und den Menschen? Lässt Gott es dazu kommen, dass die Beziehung zu ihm bröckelt und am Ende ganz abreißt? Wenn ich das Buch Jeremia als Ganzes lese, dann begegnen mir darin genau diese Worte. Bereits bei seiner Berufung hört Jeremia aus Gottes Mund, was sein Auftrag sein wird: Er soll ausreißen und einreißen, zerstören und verderben. Entspricht ein Gott, der solches fordert, dem Bild, das Menschen mit einem liebenden Gott verbinden? Kann Gott so grausam sein und seinen Geschöpfen das Gericht androhen?
Ja, er kann! Das Bild, das wir so gerne mit dem „lieben“ Gott verbinden, entspricht nur bedingt dem Wesen Gottes. Zu Gottes Wesen gehören neben seiner Liebe auch seine Heiligkeit und sein Zorn. Und dementsprechend hat Gott die Worte wahr gemacht, die er zu Jeremia gesprochen hat. Er hat sein Volk, das sich von ihm abgewandt und fremden Göttern zugewandt hat, in das Exil nach Babylon führen lassen. Irgendwann war Schluss mit dem Mahnen und Rufen, irgendwann traf ein, was der Mund des Propheten gebetsmühlenartig wiederholte.
Irgendwann landen zwei dereinst sich liebende Menschen vor dem Scheidungsrichter, weil es ihnen nicht gelingt, zu der ersten Liebe zurückzukehren. Vielleicht auch deshalb, weil es ihnen nicht gelingt, hinter dem Bild, das sie sich von dem Partner/der Partnerin machten, den wahren Menschen zu sehen. Liebe verflüchtigt sich, weil ein Bild sich zwischen zwei Menschen geschoben hat.
Lässt sich dieses Beispiel auch auf die Liebe Gottes übertragen? Stünde nicht von Anfang an neben dem Gerichtswort auch das Verheißungswort an Jeremia, dann blieben am Ende tatsächlich nur Scherben übrig. Jeremia hat aber nicht nur den Auftrag, ein- und auszureißen. Er hat auch den Auftrag, zu pflanzen und zu bauen. Jeremia soll das Gericht, nicht um des Gerichts willen, sondern um des Heils willen androhen. Gottes Liebe hat bei allem Ernst immer nur ein Ziel: Sie will verirrte Menschen zurückgewinnen. Sie will auch da, wo sie Gericht androhen muss, nur Eines: die Umkehr und Rückkehr zu Gott. Denn er hat die Menschen je und je geliebt, darum rief und ruft er sie immer wieder neu zurück auf seinen Weg. Weil Gottes Weg von Gnade und Gericht gesäumt ist, deshalb steht auch das Gericht im Dienst der Gnade.
Noch einmal komme ich auf die zerbrochene Beziehung zwischen zwei Menschen zu sprechen. Lässt sich aus Gottes Handeln auch etwas ableiten für die Beziehung in einer Partnerschaft? Ich meine ja. Selbst wenn eine Liebe Risse bekommen hat, muss sich daraus nicht eine unüberbrückbare Feindschaft entwickeln. Der Blick auf Gottes Liebe kann zwei Menschen helfen, den anderen oder die andere auch dann noch zu achten und zu lieben, wenn die ursprünglich erotische Liebe erloschen und zur Agape geworden ist.