Ein feste Burg ist unser Gott – Liedpredigt zur Reformation (EG 362)

Haus voller Erinnerungen
Im Pastorat bewundern die Gäste den wunderbaren Terrazzo-Boden und die herrlich großen Räume. Amtsräume, Wohnzimmer, Esszimmer, Flure mit altem Terrazzo. In diesem Haus wohnen seit der vorletzten Jahrhundertwende die Pfarrfamilien. Die Dielen quietschen und die Holzbalken ächzten beim Wetterwechsel.
Alles in diesem Haus atmet Geschichte. Auch die unscheinbare Kellertreppe, deren Holzstege sind u-förmig ausgetreten. Die Pfarrfrau oder das Hausmädchen sind früher diese Treppe hinab- und hinaufgestiegen. Alle Vorräte lagen dort unten. Ihre Schritte haben die Stufen geformt. Unten im Keller liegt hartnäckig der Geruch der Kartoffelkiste in der Luft. Die Regale, in denen einst die Weckgläser aufgereiht waren, dienen heute als Aktenraum. In Hungerzeiten waren die Sorgen so groß, dass der schwere Schritt die Stufen verformte. Nach guten Ernten flog die Pfarrfrau leicht die Stufen hoch.
Die Kartoffelkiste ist lange abgebaut. Der Duft vergangener Ernten hat sich in den Mauern festgesetzt. In einem übertragenen Sinn erinnern die Stufen an den Weg zu den geistlichen Vorräten: Wer hungert, nimmt die Stufen, sucht seine Vorräte zusammen.
Während des Reformationsjubiläums sind die Treppen, die zu den alten Vorräten führen, ausgetreten worden. Es gibt einen Pendelverkehr, ein Sichten der Schätze. Manches wird auch beiseitegelegt. Die letzten 500 Jahre sind reich an Früchten. Viele verdienen es, zutage gefördert zu werden.

Überall wird gesungen
2017 ist an vielen Orten in Europa das Jubiläumsjahr, in dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ angestimmt wird. Ein Lied, das nicht nur in der Kirche für Gewissheit in Glaubenssachen und für protestantisches Bewusstsein steht. In Bergen, in Norwegen war Luthers Choral Mittelpunkt einer Festveranstaltung. Klassisch in einem vierstimmigen Satz stimmte ein Chor ihn an, dann kamen Kinder und setzten das Lied im Rap-Stil um, und als die Break­dancer auftraten, mischten sich junge Asylbewerber, die in der Stadt leben, in den Tanz ein. Texte aus „Alles perfekt gesungen“, und es schien so, als käme der Choral Schritt für Schritt im 21. Jahrhundert an. Es erklang auch auf Syrisch und wurde laut gesungen, die unterschiedlichen Sprachen in der einen Melodie gebündelt. Der Rhythmus eher ein Tanz als ein ernstes Lied.
Doch genau das Lied, das in vielen Kirchen und Ländern den Singenden leicht und fröhlich über die Lippen geht, lässt andere verstummen. An vielen Orten wird „Ein feste Burg“ nicht mehr angestimmt. Der ursprüngliche Trotz, der mit dieser Dichtung laut wird, mit dem der Glaube gegen innere, seelische Nöte antritt, richtete sich plötzlich gegen andere Menschen. Die Gefahren, die inwendig den Glauben bedrohen, werden platt veräußerlicht. Das Bibelzitat, das von Zweifeln und Angst bedrängten Seelen Mut macht, wird als Kampflied missbraucht.

Es sind düstere Erinnerungen, die heute mit diesem Choral zutage befördert werden. Mit dem Gesang von „Wehr und Waffen“ zogen junge Männer in Kriege. Im Ersten Weltkrieg wurden die Franzosen zum „alt bösen Feind“ hochstilisiert. Der massive Missbrauch des Liedes griff um sich. Der Glaube wurde stumpf und machte sich angreifbar. Luther war - so zeigt sich - missverstanden worden. Glaube, der Menschen in den Krieg schickt, ist nicht plausibel. Er tröstet nicht, er wiegelt auf. So besungen, führt der Glaube ins Verderben.
Ursprünglich folgt die Idee dieses Kirchenliedes einem leichten Tanzlied. Der Text steckt voller Zuversicht. Das „Wörtlein kann ihn fällen“ legt alle Gewalt in Gottes Hand. Die Sorge, ob die Vorräte reichen, liegt bei Gott und nicht bei den Menschen. Zum Kampflied ist der Choral erst gemacht worden, dann verkam er vollends zum Marsch. Höhepunkt der Perversion: 1942 hielt die Melodie im Film „Der große König“ für die Propaganda der Nazis her: „Das Reich muss uns doch bleiben“ wurde auf das sogenannte Dritte Reich bezogen. Hitler stand als „der rechte Mann“ an der Spitze, den hätte, so dachte man, Gott „fest erkoren“. Dreister lässt sich ein Choral kaum missbrauchen. Martialisch ließen selbst die Pastoren ihn singen. Selbst die Musiker auf den Orgelbänken weigerten sich nicht.

Die innere Anfechtung hatte man veräußerlicht. Man hatte den „alt bösen Feind“, der nach der Seele greift, der Gottes Wort verdreht und das Leben verwirrt, einfach in die Verantwortung anderer Menschen verschoben. Mit dem, was Angst macht, statt den Mut zu stärken, ließ sich politisch Gewinn erzielen. Der Choral blieb trotzdem im Gesangbuch. Denn es ist das Lied, in dem Gottvertrauen geübt wird.

Die Stufen der Treppe, die aus dem Keller heraufführt, sind ausgetreten. In solchen dunklen Momenten kommt die Frage nach der Gnade zutage. Das Singen dieses Chorals geht nur dann, wenn der ursprüngliche Inhalt wieder ans Licht geholt wird. Er liegt in den letzten Sätzen, die jede der Strophen abschließen, offen zutage. Wer die versteht, muss seinen Feind nicht im anderen Menschen suchen. Das „auf Erd ist nicht seinsgleichen“ hält die Reiche auseinander. „Das Feld muss er behalten“ meint die eigene Seele, auf der Gott seine Gnade ausbreitet. „Ein Wörtlein kann ihn fällen“ wird auf die Lebenskraft und den Mut angestimmt, der die Angst überwindet. „Das Reich muss uns doch bleiben“ meint Gottes Reich, nach dem sich der Glaube sehnt. Solche Sätze sind wie Beobachtungen, die der Glaubende anstellt, sie geben Einblick in Gottes Kampf für jede einzelne Seele. Sie befördern eine Perspektive ans Tageslicht, in der niemand handelt, außer Gott alleine. Kein Mensch kann die Zukunft herbeizwingen. Auch das Reich Gottes lässt sich nicht mit Menschenhand aufbauen. Genauso wenig lässt sich eine letzte Gerechtigkeit mit Gewalt herstellen. Gottes Reich ist ein Zukunftsland. Und der Choral von der festen Burg stärkt die Hoffnung, dieses Land unversehrt zu erreichen.

Schutz vor Größenwahn
Kaum ist diese Perspektive ans Tageslicht geholt worden, treibt das Reich Gottes seine ersten Keime. Die festen Burg und Wehr und Waffen sind keine Mordinstrumente, die im Namen Gottes geführt werden. Sie zeigen eine Hoffnung, die selbst dann bleibt, wenn die Zeichen der Zeit anders gesetzt sind. Die greift nicht nach Säbel und Schwert und rennt nicht los und metzelt alles nieder.
Die Alten waren noch im letzten Jahrhundert davon überzeugt, dass ihr Deutsches Reich vor und über den anderen steht. Sie verwechselten das Reich des Kaisers mit dem Reich Gottes. Es war ein langer Lernprozess, bis wieder deutlich war: Dieser Feind, von dem der Choral singt, ist der Feind, der von innen her den Glauben angreift. Dieser Feind verdreht das Wort Gottes, bringt es falsch in die Ohren der Hörenden. Statt Hoffnung zu verbreiten, macht er Angst. Er redet vom Gericht und verschweigt die Gnade. Die eigenen Nöte, die spürbare Ohnmacht, wird beiseitegeschoben, die anderen werden in der Rolle der Schuldigen dargestellt. Das ist der Moment, in dem die eigene Seelennot in Größenwahn umschlägt.

Das ist der Augenblick, in dem die Sehnsucht nach Gottes Gnade übergroß wird. Im Größenwahn wird die Bitte nach einer Wende unübersehbar. Der ursprüngliche Sinn des Chorals kommt in den Blick: Der Glaube sieht zu, wie Gott den Größenwahn besiegt. Er zeigt diesen großen Kampf gegen den Tod, in den Gott sich hineinbegeben hat. Die feste Burg wird zum Seelenraum, der den Glauben schützt und vor Selbstüberhebung sichert. Das Gefühl, immer größer, wichtiger und noch bedeutender sein zu wollen, war lange in dem Choral verbunden, das wendet sich nun wieder von außen nach innen. Es braucht eine feste Burg, die die Seele schützt, und geistliche Vorräte kommen zutage, die den Glauben gegen Anfechtungen immunisieren.

Vieles, was im Reformationsjubiläum gefeiert wird, atmet Geschichte. Manches wird zur schweren Last, wann man es zutage fördert. Die alten „Ein feste Burg ist unser Gott“-Gesänge, die an den Fronten Europas erklungen sind, beschweren das Singen, und die Erinnerung an den Missbrauch eines Chorals lähmt manche Zunge. Oder: Die Erinnerung macht trotzig. Wer diese Geschichte zutage fördert, will auch den ursprünglichen Gedanken mit ans ­Tageslicht holen. Es geht um das Vertrauen in Gott. Der sitzt im Regimente. So wie der Choral zum Beispiel in Bergen, in Norwegen, erklungen ist. Alt gesungen und dann neu interpretiert. Tänzerisch und leichtfüßig. Denn ein anderer streitet für die menschlichen Belange, macht die Seele stark, „er heißt Jesus Christ“.

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