Darf ich Sie einladen zu einem Besuch bei einem hochbetagten Lied? Es ist das Lied Nummer 4 im Evangelischen Gesangbuch: Nun komm der Heiden Heiland. Ich möchte mit Ihnen dieses Lied zunächst betrachten. Anschließend will ich mich mit Ihnen respektvoll und zugewandt diesem uralten Zeitzeugen tastend nähern. Wenn Sie dabei bleiben und Mut haben, helfe ich Ihnen, dieses Wesen zu berühren. Und schließlich ermutige ich Sie, sich berühren zu lassen, von der Schönheit und dem Trost, die in diesem Lied sind.
(Lied aufschlagen - Melodie hören, die verhalten und ruhig gespielt wird - möglichst zwei Verse. Die fünf Verse des Lieds würde ich am Ende der Predigt singen.)
Zunächst möchte ich mit Ihnen dieses Lied betrachten. Unter den Versen steht T für den Text-Gestalter oder Texter. Das ist tatsächlich Martin Luther. Er hat im Jahr 1524, also in den ersten Jahren der Reformationszeit, dieses Lied geschrieben. Genauer gesagt hat er diesen Text aus dem Lateinischen übertragen. „Veni redemptor gentium“ begann ein Hymnus, den Luther aus den Chorgesängen seiner Klosterzeit kannte, ein Hymnus für die Weihnachtszeit. Und dieser Hymnus war zu Luthers Zeit bereits über 1100 Jahre alt. Ambrosius von Mailand, so steht darunter, hat ihn um 386 getextet. Also ein uralter christlicher Gesang, ein hochbetagtes Lied. Es gibt nur wenige Gesänge der Christenheit, die auch so alt sind. Noch eine Auskunft gibt unser Gesangbuch. Ganz unten, am Ende des Textes, steht M für Melodie. Die Melodie, die hier in Noten abgebildet ist, ist im Kloster Einsiedeln bereits 350 - 400 Jahre vor Luther nachweisbar. Luther hat die Melodie übernommen und ein klein wenig dem anderen Rhythmus seiner deutschen Übersetzung angepasst.
Zum Betrachten gehört auch dieser erste Eindruck: Das Lied passt nicht in unsere Zeit. Es ist weder amerikanisch, wie zahllose Lieder heutzutage. Es ist auch nicht mitreißend, weder in Melodie noch im Rhythmus. Es vermittelt auch keine deutsche Weihnachtsstimmung. Es passt nicht in die Vorweihnachtszeit der Weihnachtsmärkte und Weihnachtsevents und der zahllosen Weihnachtsfeiern. Sprache und Melodie wirken wie aus einer anderen, vergangenen Zeit. Auch der Text ist fremd oder gar befremdlich. Ohne Erklärung und Übersetzungshilfe ist er für Menschen unserer Zeit gar nicht mehr zu verstehen. Er hat keinen schönen Reim. Satzteile wirken wie hingewürfelt, hingeworfen. Ein merkwürdiges Lied!
Aber weil es so fremd ist, passt es zu dem, den wir an Weihnachten suchen. Er ist ja fremd, außen vor. Wer ihn finden will, muss wirklich suchen - nach dem Geheimnis, nach den Spuren, nach ihm. Bei den vielen weihnachtlichen Märkten, Events und Feiern wird er schwer zu finden sein. Manche machen sich darum auf den Weg zu einer Waldweihnacht. Oder sie kommen mit denen zusammen, die einsam sind. Wieder andere schätzen die Atmosphäre eines Nachtgottesdienstes in einer kerzenbeleuchteten alten Kirche. Sie alle suchen das Geheimnis von Weihnachten, das Fremde, das Mysterium.
Nun möchte ich mit Ihnen das Lied betasten, mich vorantasten durch die große Fremdheit und zeitliche Entfernung. Dieses Lied fühlt sich sehr fremd an. Das ist gar nicht leicht auszuhalten. Aber nicht nur das Lied ist fremd. Auch Weihnachten ist fremd. Es behauptet allen Ernstes, dass die Völker dieser Erde Gott brauchen. Dabei höre und lese ich doch tagaus und tagein: Wir brauchen bessere Entwicklung und mehr Toleranz, weltweiten Handel und Wohlstand, bezahlbare Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau, sichere Renten, bezahlbare Wohnungen, Schutz vor Terror und Sicherheit im Alltag, faire Arbeitsbedingungen und ordentlich bezahlte Jobs. Brauchen die Menschen unserer Zeit tatsächlich Gott? Ja, selbst diese Frage wirkt fremd in unseren Tagen.
So tasten wir uns in die Zeit der Entstehung dieses Liedes hinein. Ungefähr 50 Generationen vor uns, vor mehr als 1600 Jahren, wurde es geboren. Getextet wurde es von einem exzellenten Redner und Prediger, dem Bischof Ambrosius in Mailand. Brauchten die Menschen seiner Zeit Gott? Gewiss war Ambrosius davon überzeugt, dass die Völker den Heiland brauchen. Ambrosius war umgeben von gewaltigen Veränderungen im Römischen Reich. Er hat die beginnenden Völkerwanderungen miterlebt, unaufhörliche militärische Auseinandersetzungen, gewaltige Fluchtbewegungen der Goten vor den Hunnen. Er kannte die typischen Reaktionen des Militärs und der Politik. Und er kannte die Not und die Ängste der Menschen seiner Zeit - und zugleich all die Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit der Starken. So wie ich ihn verstehe, war er überzeugt: Wir brauchen Jesus, den Gottessohn. Er allein kann die Völker heilen, die sich bekämpfen und vernichten. Wir brauchen diesen Heiland, der die verletzten Seelen der Menschen anrührt. Wir brauchen den Heiland, der nicht vernichtet, zuschlägt und verwundet, sondern rettet und verbindet. Ihn brauchen wir mehr als alles andere, was an Forderungen und Vorschlägen vorgetragen wird. Er allein kann uns in unserer egoistischen Natur verwandeln und heilen. Darum beginnt dieser Hymnus mit der gesungenen, sehnlichen Bitte: „Komm, Erlöser der Völker“ - „Nun komm, der Heiden Heiland.“
Und jetzt möchte ich Ihnen Mut machen, dieses Lied, dieses hochbetagte Wesen, zu berühren. Ich will Sie ermutigen, dieses Lied zu lieben; erst dann lerne ich seine Schönheit zu entdecken. Ambrosius hat sich ins Zeug gelegt. Er hat sprachlich wie inhaltlich faszinierend das Geheimnis von Weihnachten beschrieben. Dies Geheimnis, dass Gott in einem Menschen gekommen ist:
„Sein Ausgang führt vom Vater,
sein Heimgang führt zum Vater,
sein Hinweg bis zur Hölle,
sein Rückweg zum Throne Gottes.“
Er hat damit Jesu Wort (aus Johannes 16,28) aufgenommen:
Ich bin vom Vater ausgegangen
und gekommen in die Welt;
Wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater.
Und all das Faszinierende und Erschreckende, was Menschen in Jesus berührt hat, wird gedeutet mit einer erstaunlichen Wortbildung: Ein Zwillingswesen ist er, Zwillingssubstanzen („geminae substantiae“) machen ihn aus. Luther übersetzt es in die theologische Aussage: Da ist „Gott (von Art) und Mensch“ in ihm. Da ist der ewige Gott, der für Menschen nie wirklich begreifbar und erreichbar ist - in dem Kind, das geboren wird. Und da ist das Kind zugleich ganz und gar ein Mensch. „Solche Geburt ist würdig Gottes“ - oder wie Luther übersetzt: „Gott solch Geburt ihm bestellt“. Wen wundert’s, dass gesungen wird: „Staunen soll alle Welt“ oder: „dass sich wunder alle Welt“. Christlicher Glaube besingt, ja bewundert diese Paradoxie, die von Judentum, Islam, Zeugen Jehovas und anderen als inakzeptabel abgelehnt wird: Darum preisen wir Gott als den Heiligen, den Einen, den Schöpfer allen Lebens - und zugleich Gott in Jesus, einem Geschöpf. Und wir beten staunend an: Jesus, ganz Gott und ganz Mensch.
Hier muss nicht der richtige Glaube bewiesen oder nachgesprochen werden. Hier wird das Geheimnis besungen, gelobt, geliebt, gefeiert. Wer dies liebend mitsingt, tut es verhalten, staunend, fasziniert und überwältigt. Anders sollte man diesem Geheimnis nicht begegnen. Wer es zu fassen versucht, dem zerrinnt es zwischen den Händen. Wer es anderen aufdrücken will, verliert es. Dies Geheimnis will geliebt und mit dem Herzen der Sehnsucht berührt werden. Ihm nähern sich die Christen des Ostens anbetend, zärtlich küssend, mit Tränen der Rührung. Darum möchte ich Sie ermutigen, sich berühren zu lassen, von der Schönheit und dem Trost, die in diesem Lied sind. Wie traumhaft schön wird in der lateinischen Sprache unser vierter Vers formuliert:
„Schön erglänzt deine Krippe,
ein nie dagewesenes Licht haucht die Nacht aus,
das keine Nacht auslöschen soll
und das in beständigem Glauben leuchte.“
Ja, geboren wird Jesus, der später von sich sagen wird: Ich bin das Licht der Welt. Keine Nacht kann dieses Licht auslöschen, nicht die Nächte der Angst, nicht die Nächte der Verzweiflung, auch nicht die Nächte der Schuld oder gar des Todes. „Ein nie dagewesenes Licht haucht die Nacht aus.“ Oder wie Luther unseren 4. Vers übersetzt: „Dunkel muss nicht kommen drein, der Glaub bleibt immer im Schein.“ So berühren wir nicht nur dies fremde Lied, sondern wir lassen uns von ihm berühren. Wir lassen uns anrühren von dieser fremden, strahlenden Botschaft: Nicht wir müssen an das Licht glauben, sondern dieses nie dagewesene Licht haucht die vielen Nächte aus und leuchtet in unser Vertrauen, in unsere Angst, in die Verzweiflung: „Der Glaub bleibt immer im Schein.“ Was für ein wunderbarer Trost. Dieser Heiland kommt in unsere Dunkelheiten hinein, wenn wir ihn nur lassen. Da haucht er die Nacht aus, da bläst er die Verzweiflung weg. Das ist nicht gewaltsam, nicht laut und lärmend. Es ist zärtlich, wenn gehaucht wird, damit wir nicht erschrecken. So tastet der Heiland der Völker nach uns, dass er unsere Herzen, unser Denken und unser Handeln berührt und verwandelt. Zärtlich berührt er uns. Er begegnet den Verletzten, rührt sie an und pflegt sie. Er begegnet einfühlsam den Trauernden und tröstet sie. Er begegnet den Suchenden, die sich sehnen, und haucht die Nacht ihrer Verzweiflung aus. Keine Nacht kann mehr dieses Licht auslöschen, Jesus, den Heiland der Völker. Sein Geist verändert uns zum Segen für viele.
Von großer Hilfe war für mich der exzellente Aufsatz von Prof. Dr. Fritz Wagner „Veni redemptor gentium“ - Ein Weihnachtshymnus des Ambrosius von Mailand. Gefunden im Internet www.pegasus-onlinezeitschrift.de/alte_seite/erga32002wagner.htm
Gebet des Augustinus, der von Ambrosius in Mailand im Jahr 387 getauft wurde:
Du hast gerufen, geschrien und meine Taubheit übertönt.
Du hast geleuchtet, gelodert
und meine Blindheit überstrahlt.
Du hast deinen Duft verbreitet,
ich habe einen tiefen Atemzug genommen
und jetzt lechze ich nach dir.
Ich habe dich geschmeckt
und jetzt habe ich Hunger und Durst.
Du hast mich berührt
und jetzt brennt in mir das Verlangen
nach deinem Frieden.
Evangelium: Johannes 1,9-14
Lesung: Johannes 14,6-11
Liedvorschläge: 12 (Gott sei Dank durch alle Welt)
32 (Zu Bethlehem geboren)
37 (Ich steh an deiner Krippen hier)