„Die Reformation war und ist eine Singbewegung. Sie nimmt das Liebeslied, das Gott der Erde singt, auf und stimmt in diese Klänge ein.“ Mit diesen Worten bringt der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh die Reformation und das Singen in einen unauflöslichen Zusammenhang. Genau das war Martin Luther 1523 wichtig, als er mit deutschen Liedern Gottes Wort durch den Gesang unter die Leute bringen wollte. Eilig sollte eine populäre geistliche Dichtung für das liturgische Singen geschaffen werden. Das Vorhaben stand im Zusammenhang mit der Reform der Messe, bei der künftig einzelne liturgische Stücke anstelle der lateinischen Gesänge vom Volk gesungen werden sollten. In den deutschsprachigen Liedern sollten das biblische Wort, anspruchsvolle dogmatische Aussagen und das persönliche Zeugnis in einfacher und verständlicher Sprache zu Gehör gebracht werden. Weil Luther sich selbst nicht für begabt genug hielt, geistliche Gesänge zu schaffen, beauftragte er zunächst andere mit dieser Aufgabe. Als diese jedoch nicht sofort lieferten, wagte der Reformator sich selbst an das geistliche Dichten. Gerade an den für die kirchlichen Feste verfassten Liedern lässt sich schön zeigen, wie er auf altkirchliche oder mittelalterliche, lateinische oder deutsche Dichtungen der Kirche zurückgriff. So stammt auch die erste Strophe des Weihnachtsliedes „Gelobet seist du, Jesu Christ“ aus dem Mittelalter. Sie gehört zu den einfachen volkssprachlichen Gesängen, bei denen sich die Gemeinde mit dem Kyrie-Ruf an der Liturgie beteiligen konnte. Im Zusammenhang von Luthers eigenen Dichtungen gehört dieses Weihnachtslied in jene produktive Phase der Jahre 1523/24, in der er zwei Dutzend geistlicher Gesänge und somit mehr als die Hälfte seiner Lieder schuf.
Luthers Lieder stehen alle im Dienst der Verkündigung. Das biblische Wort und seine wesentlichen Aussagen sollen singend das Herz und den Verstand der Menschen erreichen. Dies lässt sich auch an den einzelnen Strophen von „Gelobet seist du, Jesu Christ“ zeigen, dessen erste Strophe Luther den liturgischen Stundenbüchern des Zisterzienserinnenklosters Medingen entnommen und mit weiteren sechs Strophen fortgeführt hat. Hinsichtlich der biblischen Bezüge lassen sich besonders in der vierten Strophe Verbindungen zum Johannes-Prolog aufzeigen. Wenn es in Johannes 1,9 heißt: „Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, wenn es in die Welt kommt“, dann heißt es in dem Weihnachtslied: „das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein; es leucht’ wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht.“ Die Mitte des Liedes erzählt von der entscheidenden Wende in der Mitte der Nacht und berichtet damit vom Beginn des neuen Tages. Es ist der Tag, an dem Gott selbst erscheint und die Menschen mit seinem Licht erleuchtet. Er holt sie heraus aus der Nacht der Gottferne und führt sie dem neuen Tag entgegen, der mit Jesu Geburt beginnt.
Während die Verse eins bis drei von der Menschwerdung Jesu Christi berichten und in knapper und doch bildreicher Sprache seine Geburtsgeschichte erzählen, stellt der vierte Vers auch für das Lied einen Wendepunkt dar. Nun geht es nicht mehr um Christus und seinen Weg, nun geht es um die Menschen. Nun geht es um das, was Christus für sie ist und aus ihnen macht. Christus führt die Menschen aus dem Jammertal der Gottferne. Er erbarmt sich ihrer, er öffnet ihnen den Himmel und macht sie den Engeln gleich. Das alles mündet in die zentrale Aussage der letzten Strophe: „Das hat er alles uns getan.“ Auf diesen entscheidenden Satz läuft die Weihnachtsgeschichte hinaus. Die Geburt Jesu Christi wird mit der Rettung der Menschen begründet. Aus der Christologie wird die Soteriologie, die Lehre von der Erlösung. Allein darum geht es: Jesus Christus kam zum Heil der Menschen auf diese Erde. Darüber sollen die Menschen sich freuen und Gott in Lob und Anbetung danken. Während sich zu Beginn des Liedes die Engel über die Menschwerdung Jesu Christi freuen, werden am Ende die Menschen aufgefordert, sich über das zu freuen, was Christus für sie getan hat.
Luther hat mit dem Inhalt dieses Weihnachtsliedes erfüllt, was sein reformatorisches Anliegen war, der geistliche Gesang in den Gottesdiensten sollte zur theologischen Bildung und zur Kenntnis und Verinnerlichung der biblischen Botschaft beitragen. Er sollte zugleich anspruchsvolle dogmatische Aussagen in verständlicher Sprache zu Gehör bringen. Für seine Zeit ist ihm dies sicher gelungen.
Die Sprache des Liedes orientiert sich an der Lebenswelt der Menschen des 16. Jahrhunderts. Orientiert sie sich damit aber auch an der Lebenswelt der Menschen des 21. Jahrhunderts? Ist beispielsweise das Jammertal noch ein Wort, mit dem Menschen in der Weihnachtszeit in Berührung kommen wollen? Geht es in der Gegenwart nicht viel mehr darum, gerade diese Zeit mit harmonischen Zuschreibungen zu versüßen und alles auszublenden, was an das Elend des eigenen Daseins und dieser Welt erinnert? Erfüllt dieses Lied auch heute noch den von Luther anvisierten Zweck?
Ich meine, es erfüllt seinen Zweck auch heute noch, denn es fordert heraus, über das nachzudenken, was Weihnachten wirklich meint. Und es fordert heraus, die Menschwerdung Jesu Christi in einen Zusammenhang mit dem eigenen Leben zu bringen. Selbst wenn die Geschäftswelt und vielfach auch die Medien uns vorgaukeln, es gehe an Weihnachten um ein Fest vollkommener Harmonie, so bildet das mehr eine Wunschvorstellung als die harte Wirklichkeit ab. Es geht an Weihnachten nicht darum, romantisch verklärt vom Kind der Krippe zu reden.
An Weihnachten geht es um das, was Luther in seinem Lied in gekonnter Weise zur Sprache bringt: Christus kam für mich auf diese Erde. Er kam, um das Dunkel meines Lebens mit seinem Licht zu erleuchten. Er kam, damit der Wunsch und die Hoffnung auf Frieden zumindest in meinem ganz persönlichen Bereich so Wirklichkeit werden können, dass der Friede auf Erden mehr als eine Utopie ist.
Wenn ich das Weihnachtslied langsam und wiederholt lese, dann merke ich, wie es mir die Weihnachtsgeschichte ganz elementar und gerade darin tiefgründig erschließt. Ich werde hineingenommen in ein Geschehen, das bei Gott seinen Anfang nimmt und bei mir und meinem Leben endet. Zugleich erinnert es mich an ein Wort von Angelus Silesius, in dem es heißt:
„Und wäre Christus tausendmal
in Bethlehem geboren,
doch nicht in dir:
Du gingest ewiglich verloren.“
Gebet:
Ewiger Gott, himmlischer Vater,
im Kind in der Krippe kamst du für mich auf diese Erde,
lass mich dies immer wieder neu begreifen
und dir in Wort und Tat dafür danken.
Liedvorschläge: | 23 (Gelobet seist du, Jesu Christ) |
| 27 (Lobt Gott, ihr Christen, alle) |
| 53 (Als die Welt verloren, |
| Christus ward geboren) |