Wenn Sie, liebe Predigerin, lieber Prediger, in der Endphase der Reformationsdekade nichts mehr von Luther hören können oder wollen, dann überspringen Sie einfach diese Kolumne. Das ist o.k. Allerdings ist auch in der Überhitzung der Reformationsdekade die Frage „Können wir von Luther Predigen lernen?“ eine Frage, die selbst 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation zu interessanten Einsichten führen kann. Die Frage „Können wir von Luther Predigen lernen“ ist nicht einfach mit einem Ja oder Nein zu beantworten.
Für ein Nein gibt es zwei gewichtige Gründe. Zum einen hat sich Luther selbst nie als homiletischen Lehrer begriffen. Im Gegensatz zu Augustinus und den zahlreichen Lehrbücher einer Ars Homiletica des Mittelalters, aber auch im Gegensatz zu Melanchthon haben wir von Luther keinen Text überliefert, der - auch nur in Ansätzen - so etwas wie eine zusammenhängende Homiletik sein könnte. Die Einsichten und Ansichten zur Predigt finden sich bei Luther in seinen schriftlichen und mündlichen Äußerungen verstreut, manchmal eher beiläufig.
Der zweite Grund, der für ein Nein spricht, ist gewichtiger. So wie Luther können wir heute nicht mehr predigen. Das merkt man spätestens bei der Lektüre der dritten Predigt von Luther. So wie er predigte, geht das heute nicht mehr. Aber das gilt auch für die Predigten eines Augustinus oder eines Friedrich Schleiermacher. Zudem war - das wissen wir aus bewährten Quellen - das Verhältnis zwischen dem Prediger Luther und seiner Predigtgemeinde nicht ohne Spannungen. Luther selbst hat bei Gelegenheit ernsthaft über einen Predigtstreik nachgedacht, und die Begeisterung der Wittenberger Gemeinde für ihren berühmten Prediger scheint sich in Grenzen gehalten zu haben. Die letzte Predigt seines Lebens hielt der auch damals schon weltberühmte Reformator in seiner Geburtsstadt Eisleben vor wenigen alten Frauen. Nein, zu einem homiletischen Programm Wachsen gegen den Trend scheint sich der Prediger Luther nicht zu eignen.
Gleichwohl gibt es gewichtige Gründe, nicht nur aus historischem Interesse nach den homiletischen Impulsen zu fragen, die von Luther ausgehen. Ich möchte dazu an dieser Stelle heute nur zwei Punkte nennen.
Ich möchte dazu beginnen mit einem kleinen autobiografischen Text, den Luther in seine Vorrede zur ersten gedruckten Sammlung seiner lateinischen Schriften aus dem Jahre 1545 eingeflochten hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob Luther die damaligen Vorgänge exakt geschildert hat. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass er an dieser Stelle eine höchst komplexe Phase seines Lebens stilistisch vereinfacht und damit profiliert hat. Aber gerade in dieser Stilisierung hat Luther die Bedeutung seiner theologischen Perspektive auf die damaligen Vorgänge unterstrichen. Die Passage lautet:
„Ich war von einer gewiss wunderbaren Glut ergriffen gewesen, Paulus im Römerbrief zu verstehen; allein dem war bisher im Weg gestanden nicht das kalte Blut in der Brust, sondern ein einziges Wort in Kapitel 1,17: ,Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart.‘ Ich hasste nämlich dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, weil ich - nach Brauch und Gewohnheit aller Kirchenlehrer - unterwiesen worden war, es ... zu verstehen, wonach Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. - Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich hasste ihn, denn ich fühlte mich, sosehr ich auch als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen ... So raste ich mit wütendem und verstörtem Gewissen, und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte zu wissen, was St. Paulus wolle. - So lange, bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den inneren Zusammenhang der Worte richtete, nämlich ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘, da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt ... Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten des Paradieses selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht ...“
Luther schreibt hier in hoch emotionalen Tönen über eine Erfahrung, die er mit und an einem biblischen Text gemacht hat. Sein Verhältnis zum Text lässt sich ohne Weiteres als ein libidinöses Verhältnis beschreiben. Aber eben nicht nur als libidinös, sondern es handelt sich auch um eine intellektuelle Auseinandersetzung. In der Begegnung Luthers mit dem biblischen Text sind die emotionale und kognitive Dimension untrennbar miteinander verschmolzen. Der Text erscheint in Luthers Schilderung wie eine Person. Es ist ein personales Verhältnis, das Luther gegenüber dem Text eingegangen ist. Die Pointe der Darstellung Luthers liegt im Gesamtkonstrukt der Notiz: Es ist eine Befreiungsgeschichte, die Luther erzählt. Er beschreibt den Weg aus einer Knechtschaft hin zur Freiheit. Im Grunde erzählt Luther hier eine Exodusgeschichte. Und diese Exodusgeschichte ist stilisiert als eine Erfahrungsgeschichte mit einem biblischen Text. Aus dem Text als Feind wurde ein Text als Freund.
Ich vermute, dass diese Erfahrungsgeschichte Luthers der Grund dafür ist, dass er die Predigt (der er - wie die gesamte Reformation - eine neue Bedeutung und einen neuen Stellenwert gab) so eng an eine Textvoraussetzung gebunden hat. Die Predigt nimmt ihren Ausgang von einem biblischen Text - das ist für Luther ein ehernes Gesetz.
Wir nehmen dies heute sehr gerne als selbstverständlich an. Die Geschichte der Homiletik lehrt uns jedoch anderes. Der Beginn der christlichen Predigt ist mit einem ganz anderen Weg des Predigens verbunden. In den ersten Jahrhunderten der christlichen Gemeinden haben die Prediger eher eine thematisch orientierte Predigt gehalten, die zwar an nicht wenigen Stellen auf biblische Texte Bezug genommen haben. Das innere Konstrukt der Predigt aber war durch das Thema bestimmt und nicht durch einen bestimmten biblischen Text. Man könnte vielleicht sagen: Die frühe christliche Predigt geht von einem Thema aus auf einzelne biblische Texte zu; die reformatorische Predigt geht von einem Text aus auf einzelne Themen zu.
Dass dies so ist, ist wesentlich Luther und seinem ehernen Gesetz zu verdanken. Dabei ist der Begriff der ehernen Gesetzes auch missverständlich. Es klingt nach Zwang und Unterjochung. Dies widerspräche aber zentral der Freiheitserfahrung, auf der Luthers Textverständnis basiert. Es geht Luther nicht um einen Zwang zum Text, sondern um die Freiheit, die vom Text her kommt<> Und hier liegt meines Erachtens die homiletische Aktualität des ehernen Gesetzes Luthers. Luther setzt deshalb die Bedeutung des Textes für die Predigt so hoch an, weil er sich von dem biblischen Text etwas verspricht. Er ist Quelle der Inspiration. Inspiration bedeutet aber immer Freiheit. Deshalb widerholt die Predigt auch nicht einfach den biblischen Text, sie legt ihn auch nicht nur einfach aus (das tut die Exegese!), sondern die Predigt bringt den Text in je neuen Kontexten zur Darstellung - in, mit und unter aller Freiheit eines Predigers, einer Predigerin. Aus der Lust am Text soll die Lust an der Predigt erwachsen.
Der zweite Punkt, an dem Luther in der Geschichte der Homiletik ein neues Kapitel aufgeschlagen hat, ist die Wendung hin zum Hörer, der Hörerin der Predigt. Um diese homiletische Neubestimmung der Predigt besser zu verstehen, begeben wir uns zunächst an einen anderen Ort des theologischen Nachdenkens, nämlich den Streit um die Bilder, der ja bekanntlich in der Reformation erneut aufgebrochen ist. Die Christenheit hat sich - so kann man ohne Übertreibung sagen - an den Bildern wundgerieben. Und die Konstellationen wechselten immer wieder: Mal waren die Bildbefürworter im Vorteil, mal waren es die Bildergegner. Diese Konstellation begegnet uns dann auch in der Reformation. Und deshalb ist es kein Wunder, dass die christliche Theologie eine Vielzahl so komplexer wie konträrer Bild-Theologien entwickelt hat. Bei allem Gegensatz waren sich jedoch die Bildbefürworter wie die Bildkritiker darin einig, dass eine Entscheidung über die Legitimität oder Nichtlegitimität von Bildern mittels der Frage zu klären ist, was ein Bild ist. Kann ein Bild das Urbild bewahren, wie die Bildbefürworter sagen, oder verdunkelt ein Bild das Urbild, wie die Bildkritiker in Anlehnung an Plato gesagt haben? An der ontologischen Frage, was im Grunde ein Bild ist und kann, hat sich die theologische Diskussion abgearbeitet. Und über diese ontologische Frage wurde erbittert gestritten.
Und gerade an dieser Frage, die die Theologie über beinahe anderthalb Jahrtausende beschäftigt hat, war Luther überhaupt nicht interessiert. Ihn beschäftigt nicht, was ein Bild ist, sondern ihn interessiert die Frage, was ein Bild bewirkt. In einer berühmten Formulierung während der Auseinandersetzung mit Karlstadt sagt Luther pointiert, Bilder seien „weder gut noch böse“. Damit wischt er die ontologische Frage mit einem einzigen Handstreich weg. Ihn interessiert allein die Frage, was Bilder in den Menschen bewirken. Wenn die Bilder ängstigen und einengen, dann sind sie illegitim, wenn sie aber neue Freiheitshorizonte eröffnen, dann sind sie legitim. Damit richtet sich der Blick weg vom Bild hin zum Betrachter, der Betrachterin von Bildern.
Und dieselbe Wendung findet sich auch immer wieder in Luthers Überlegungen zur Predigt. Ob eine Predigt gut ist oder nicht, entscheidet sich für Luther allein daran, ob sie in den Menschen Glauben weckt und die Lebensgewissheit stärkt. Oder noch stärker: Die Predigt ist nicht an sich Wort Gottes, wie etwa das Zweite Helvetische Bekenntnis pointiert formuliert hat, sondern die Predigt als menschliche (menschliche!) Rede wird unter der Wirkung des Heiligen Geistes erst im Hörer, der Hörerin zum Wort Gottes, insofern sie Glaubens- und Lebensmut vermittelt.
Dieses Verständnis der Predigt kann uns Predigende auf der einen Seite entlasten: Wir müssen nicht als die Vollmächtigen auf der Kanzel stehen (diese Vollmacht steht allein Gott zu). Und zugleich eröffnet Luther uns Predigenden einen großen Freiheitsraum: Der Predigt dienlich - und damit homiletisch erlaubt und geboten zugleich! - ist alles (alles!), was bei denen, die unsere Predigt hören, die Glaubens- und Lebensgewissheit stärkt und damit zugleich neue Freiheiträume eröffnet. Das können wir von Luther lernen.