"... denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen" – Liedpredigt über EG 299 "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" - Martin Luther 1524

Der besondere Gottesdienst, Liedpredigt über EG 299 „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ - Martin Luther (1524)

Orgel intoniert erste Melodie von EG 299. Dazu liest PredigerIn Ps 130,1-3.
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme!
Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst - Herr, wer wird bestehen?“

Martin Luther erinnerte sich.
Lebenslang schaute er zurück. Er war ein Erinnerungsmensch. Einer, der das Vergangene niemals ablegte, son-­
dern um die Spuren wusste, die Erlebtes auf der Seele hinterlassen. Und: Er war ein Schreiber. In Briefen und Predigten verarbeitete er, was er sah, wenn er zurückschaute. Davon erzählte er. Manche Erinnerungen tauchten immer wieder auf.
Vor allem Bilder dessen, was er „die Anfechtung“ nannte. Heute würden wir „Krisen“ dazu sagen.
Das fing mit seiner Berufswahl an. Da klafften Wunsch der Eltern und eigene Vorstellungen weit auseinander. Martins Vater, der sich vom einfachen Bergmann im Kupferbergbau der Mansfelder Stollen zu einem Handelsvertreter für Rohkupfer hochgearbeitet hatte, wünschte sich, der Sohn würde den sozialen Aufstieg fortsetzen. Jurist sollte er werden. Und so schrieb sich Martin, angetrieben vom Ehrgeiz des Vaters, im Mai 1505 an der Erfurter rechtswissenschaftlichen Fakultät ein. Seine ureigenste Entscheidung war das nicht. Der Druck der Eltern, ein prosperierendes Leben zu führen, saß ihm im Nacken. Jura. Dann eine ehrenvolle Heirat.
Aber Martin wollte nicht. Es war nicht, wofür sein Herz schlug. Und so kam es eines schwülen Sommerabends zu diesem Fall in schwere Tiefe. Als er wenige Wochen nach seiner Einschreibung zu seinen Eltern nach Mansfeld reiste, geschah, woran er sich Jahre später erinnerte: Er geriet in ein starkes Gewitter. Er fürchtete um sein Leben. Und ein Blitzschlag in unmittelbarer Nähe löste in ihm einen rechten Donnerschlag. „Hilf, St. Anna, ich will ein Mönch werden.“ Damit war es ausgesprochen. Und Martin war gefallen. In einen erschütternden Konflikt mit dem Vater. In eine Orientierungslosigkeit, die ihn kurzzeitig lähmte. In die Aufgabe, eine geplante Zukunft von den Füßen auf den Kopf zu stellen.
Aber er war auch angekommen in dem Leben, das lange als Wunsch in ihm geschlummert hatte. Mönch hatte er werden wollen - Mönch wurde er endlich. Für Luther war es ein göttliches Zeichen: das Gewitter, der Blitz, das Gelübde. Alles hatte genau so sein sollen: „Ich bin vom Himmel durch Schrecken gerufen worden.“ So erinnerte er sich Jahre später. Aus tiefer Not hatte er gerufen. In Angst um sein Leben die Stimme erhoben. Und Gott hatte geholfen. Der Weg ging ins Kloster.

Was dann folgte, waren Jahre im Ordensverbund der Augustiner-Eremiten in Erfurt. Klosterzeit. Er war angekommen. Und doch verlassen. Er war endlich auf dem Platz, auf den er sich gerufen fühlte. Und doch angefochten bis ins Mark. Auch davon erzählte er immer wieder.
Wie er als Mönch „je länger, je verzagter wurde“.
Wie es niemals reichte, was er tat.
Wie er niemals sicher war, wo er doch nichts dringlicher suchte als Sicherheit.
Sicherheit gegen den zornigen Gott.
Sicherheit gegen den Rachen der Hölle.
Sicherheit gegen den sicheren Tod.
Aber immer wieder erkannte er: Es reicht nicht.
Das Fasten. Das Beten. Das Almosengeben.
Es reicht nicht.
Das Wallfahren. Das Fasten. Das Beten. Das Beichten.
Es reicht nicht.
Das Almosengeben. Nächtelanges Beten. Das Beichten. Selbstzerknirschendes Gereuen.
Es reichte einfach nicht.
Die Angst blieb. Die Anfechtung blieb. Die Verlorenheit blieb.
Da tat er, was er immer tat, wenn er „in höchsten Nöten war“, und griff zu dem Text, in dem er sich lebenslang erkannt wusste: der 130. Psalm. In diesem sechsten der sieben Bußpsalmen der Alten Kirche fand er seine eigene Lebens- und Schrifterfahrung aufgehoben und seine Fragen gestellt.
Wer wird bestehen?
Was hält, wenn Gott alle deine Seelen-Sicherheiten mit gekonntem Hieb zerschlägt?
Was trägt, wenn der Boden unter deinen Füßen aufgeht?

Wir singen die erste Strophe.

Danach: Orgel intoniert leise die Melodie von EG 299 weiter. Dazu liest PredigerIn Ps 130,4-6.
„Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn.“

Martin Luther wartete auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. Sein Leben glich in vielen Momenten einer Nachtwache. Und doch erlebte er irgendwann, was ihm Herz und Gemüt befreite. Er verstand nicht nur äußerlich, sondern ganz und gar, mit Gefühl und Verstand, was in den Versen vier bis sechs des 130. Psalms ausgesagt war: dass Gottes Wesen viel zutreffender in der Vergebung zu finden ist als in der richtenden und strafenden Gerechtigkeit. Und dass von Gott die Gnade ausgeht, die wir durch nichts anderes als durch den Glauben erreichen. Sola fide, im Glauben allein. Und so erinnerte er sich viele Jahre später, wie er sich „ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten“ fühlte.
Er hatte verstanden, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen:
Wir können noch so sehr um unser Seelenheil kreisen.
Wir können noch so viel in uns suchen, was uns heilt.
Und wir können noch so sehr der Gerechtigkeit nachjagen mit guten Werken, mit gerechten Taten und einem tadellosen Leben. Solange wir nicht die Hand öffnen vor Gott, kann er nichts hineinlegen. Und in aller Geschäftigkeit unserer Selbst-Rechtfertigungen vergessen wir, dorthin zu rufen, wo gnädige Ohren uns hören. Und den zu bitten, der mit Liebe antworten, mit „Gnad und Gunst“ vergeben will.
Mit dieser Erkenntnis konnte Luther nicht alleine bleiben. Er hatte eine Nuss geknackt, deren Kern so süß schmeckte, er musste weitersagen, was er begriffen hatte. Und so schrieb er, 36-jährig, auf der Höhe seiner intellektuellen Fähigkeiten, er, der inzwischen geweihte kirchliche Amts-und Würdenträger, der aufstrebende Theologe, dem die Kirchenkarriere offenstand, er schrieb brennenden Herzens Thesen nieder, 95 Stück, und heftete sie an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Diese Thesen waren eine einzige Abrechnung mit Verfahrensweisen der Kirche seiner Zeit. Und sie besaßen eine Sprengkraft, die den Boden weit über die Grenzen seines Landes hinaus erschütterte. Die Welt wackelte.
Martin aber wusste sich in grenzenloser Liebe gehalten. Nur so konnte er standhaft bleiben im Auge des Sturms. In Augsburg, als er sich erstmals vor dem Kardinal zu rechtfertigen hatte. In Worms, als der Kirchenbann ihn schon fast zum Ketzer erklärt hatte und sein Leben bedroht war. Da harrte er manchmal in Angst und Verzagtheit aus bis zum Morgen. Es war ja nicht so, dass er nie mehr zweifelte. Immer wieder verzagte er an sich, seinen Entscheidungen, der Bodenlosigkeit seiner Existenz. Und die Angst trieb ihn in die Enge.
Dann öffnete er seine Hand vor Gott und betete, er möge hineinlege: Gnade. Mut. Vergebung. Trost.

Wir singen die Strophen 2 und 3.

Danach: Orgel intoniert leise die Melodie von EG 299. Dazu liest PredigerIn Ps 130,7-8.
„Hoffe Israel auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.“

Im Jahr 1523 dann machte Luther sich daran, den von ihm so geliebten 130. Psalm in ein Lied umzudichten. Es ist das Lied, das wir heute singen. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir.“ Luther wusste, wovon er sprach. Er hatte die tiefe Not, die allein auf das Gebet zurückwirft, in vielen Situationen seines Lebens erfahren. Und er hatte erfahren, wie Gott aus tiefer Not befreit. Er wusste, wie es ist, mit Gott Nächte durchzukämpfen wie Jakob. Diesem alttestamentlichen Jakob fühlte er sich verbunden. Weil Jakob mit Gott am Jabbok gekämpft hatte wie Luther in seiner Klause in Erfurt. Diesem alttestamentlichen Jakob, den Gott in Israel umbenannte, nachdem sie miteinander gekämpft hatten, stellte Luther sich an die Seite. Sie waren Gotteskämpfer, alle beide. Sie hatten mit Gott und mit Menschen gekämpft. Und gewonnen: „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade; sein Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade. Er ist allein der gute Hirt, der Israel erlösen wird aus seinen Sünden allen.“

Dass man mit Gott kämpfen und den Segen erringen kann. Dass man mit Menschen kämpfen und gewinnen kann. Das musste Luther weitergeben.
Und so schrieb er seinem guten Freund Georg Spalatin, als er ihm das Lied übersandte, er wolle, dass „das Wort Gottes auch gesungen unter den Leuten bleibe“. Das entsprach ganz seinem reformatorischen Programm. Die befreiende Botschaft von der Gnade Gottes muss uns über die Ohren und Münder in die Herzen gelegt werden, weil wir nicht glauben können, dass bei Gott immer „viel mehr Gnade ist als Sünde bei uns“.
Luther konnte das selbst manchmal nicht glauben. Er blieb lebenslang ein Angefochtener. Seine reformatorische Entdeckung war kein Weg von der Dunkelheit ins Licht. Immer wieder fiel er in schwere Bedrängnis. Und immer wieder musste er erleben, dass die klare und klärende Gnade nicht festzuhalten ist. Sie will errungen sein. Sie muss erstritten werden. Und manchmal gilt es, mit Gott zu kämpfen.

Wenn Sie mögen, dann stellen Sie sich Luther heute singend an die Seite. Ihm und Jakob. Und allen Gotteskämpfern.
Wenn Sie mögen, dann lassen Sie sich heute in die Tiefe fallen. Gleich beim zweiten Ton der Melodie, die Luther selbst für sein Lied geschrieben hat, können wir fallen, eine Quinte tief. Wir lassen uns fallen in die Tiefe unserer durchkämpften Nächte und unruhigen Tage. In dieser Tiefe finden wir, was Luther fand. Wir finden unser nacktes Selbst. Erschütternde Konflikte. Die Orientierungslosigkeiten eines Lebens, das im Dunkeln tappt. Wir finden Pläne, die von den Füßen auf den Kopf gestellt wurden. Wir finden zerschmetterte Seelen-Sicherheiten, Situationen, die unser Herz brennen lassen und uns trotzdem mit weichen Knien zurücklassen. Wir finden unseren Schmerz über verpasste Chancen und unsere Sehnsucht nach Erfüllung, die wir nicht haben. Wir finden in dieser Tiefe, dass Leben heißt, andere zu verletzen.

Aus dieser Tiefe rufen wir. Mit Luther und Jakob und allen Gotteskämpfern. Wir rufen und bitten, dass Gott unser Rufen hört. Dass er unser Herz ruhig und unsere Knie fest macht. Dass er uns verständigen Mut gibt und Trost ums Herz legt. Dass er uns gewinnen lässt.
So stellen wir uns ihnen singend an die Seite. Den Gotteskämpfern. Den Angefochtenen. Denen, die auf Heilung hoffen, und denen, die in den Krisen ihres Lebens nichts anderes mehr können als die Hand öffnen. Bittend. Vertrauend. Wartend. Gott wird etwas hineinlegen. Er wird gewinnen lassen. „Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen, so soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen. So tu Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward, und seines Gotts erharre.“

Wir singen die Strophen 4 und 5.

Und die Gnade Gottes, die höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

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