Der Monatsspruch im März 2017

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr!
Leviticus 19,32

Nun bist du alt. Jetzt ist es passiert. „Wollen Sie sich nicht setzen?“, so spricht der stumme Blick, so die knappe Frage, die keine Antwort abwartet. Schon steht der jüngere Mensch und weist mit seiner Hand einladend auf den freigemachten Platz in der voll besetzten U-Bahn.
Du könntest dich geehrt fühlen: Graues Haar ist ein Ehrenkranz (Spr 16,31). Du könntest das Angebot einfach annehmen und bei dir denken: „Nett eigentlich. Und aufmerksam. Da, schau her die Jugend, so kann sie auch sein.“ So könnte ich mit mir reden, mich setzen und mein offensichtlich von außen wahrgenommenes Alter geehrt sein lassen: Da steht jemand auf für mich.
Ob sie wissen, dass solche Weisheiten von den Dorfschulen und synagogalen Gottesdiensten jüdischer Gemeinden herrühren, in denen Kinder um 400 vor Christus oder früher solche Regeln lernten, die bis heute zum „Anstand“, zu „guter Kinderstube“ zu gehören scheinen?

Die Weisung, vor einem unbekannten grauen Haupt aufzustehen und das Alter zu ehren, war nie selbstverständlich. Für mich kam es überraschend. Die Altvorderen dachten, es sei zu lernen und wehre Spott und Hohn gegenüber den einstigen Autoritäten, die sich nun nicht mehr wehren können. So wie dem Tauben nichts Unziemliches nachgerufen werden soll, weil er es nicht hören und sich nicht wehren kann, so wie dem Blinden keine Falle zu stellen sei, weil er sie nicht sehen könne, so soll der altgewordene Mensch nicht ins Abseits gestellt werden, sondern Aufmerksamkeit finden. Mitten in einem Kapitel vielfältigster Regeln finden sich diese, um das Zusammenleben in der Sippe, im Familienverband, in der Dorf- und Religionsgemeinschaft zum Wohle aller und in der Ehrfurcht vor Gott zu gewährleisten.
Das will ich nicht missen. Doch eine andere Stimme meldet sich: „Was!? So alt wirkst du, dass man für dich aufsteht? Hätte ich nur weiter meine Haare blond färben lassen!“ Älter werden wollen nur die Kinder und die Jugendlichen. Irgendwann hört es auf. Dabei wird man älter, ungefragt. Nur alt sein will man nicht. Ich ertappe mich bei einer Erkenntnis, die mich schmunzeln lässt. Im Grunde reagiere ich auf das freundliche Aufstehen nicht anders als die neunzigjährige Seniorin, die erstaunt auf die Einladung zum Seniorennachmittag erwiderte: „So alt bin ich nun auch wieder nicht. Da gehöre ich nicht dazu.“
Mögen auch frühere Generationen es als eine Ehre angesehen haben, als alt zu gelten und damit als erfahren, vielleicht als weise, lebensklug, gar als milde und gerecht, heute schreckt das Alter viele. Alt klingt wie gebrechlich, bedürftig, altersstarrsinnig, einsam und an körperlichen und geistigen Kräften defizitär. Dabei hat sich durch unseren Wohlstand, die medizinische Forschung vieles gerade für die grauen Häupter verändert. Den Kindern gehört die Zukunft, so heißt es. Sie werden sie aber teilen mit einer Zukunft, die auch die Älteren haben: die Reiselustigen, die Fitten und Beweglichen, die Großeltern, die sich um ihre Enkel kümmern, die Vereinsvorstände und Jobpaten, die ehrenamtlich Engagierten, mit solchen, die den Herbst ihres Lebens zu gestalten und genießen wissen. In nur einem Jahrhundert haben die Menschen zwanzig Jahre Lebenszeit gewonnen. Kein Grund zum Trauern. Ein neues Alter tut sich auf. Oder ist es gar nicht so neu, wenn der Psalm 92 davon schon singt: „Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein“?

Ich bin auf der Suche, was alt werden für mich heißt und wie ich damit umgehen werde. Auf der Suche nach Altersweisheit, die mich bewegt und nachdenklich macht, fand ich dies: „Wenn dies das Altern ist: So weit, so frei sein, so immer noch in Ja und Nein dabei sein, so herzlich lachen, so getröstet schweigen, so sich zum Großen, so zum Kleinen neigen - so nah dem Zeitenton, den Ewig-Psaltern: Wenn dies das Altern ist - komm, lass uns altern!“ (Albrecht Goes)

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