Der Mai macht euphorisch.
Das Blütenwunder hat begonnen.
Die Natur atmet auf - und mit ihr der Mensch.
Das Jahr hat sich seit meiner Kindheit irgendwie „verschoben“. Winter war damals schon im Dezember. Ab März war spürbar Frühling, und im Mai gab es zu meinem Geburtstag die ersten Erdbeeren, die meine Mutter für einen Erdbeerkuchen einkaufte. Dieser bildete - mit Kaba (gibt es das noch?) - den Auftakt zu einem jährlichen Geburtstags-Tipp-Kick-Turnier, das dann am späten Nachmittag mit einem Wiener Würstchen vom Metzger und einem „Brötchen“ vom zwei Häuser weiter backenden Bäcker endete.
Was stellen heute Eltern an „Events“ bei den Geburtstagen ihrer Kinder zusammen!? Die Geburtstage unserer Enkel und ihrer Freunde sind teure, komplexe, oft belastete, manchmal gekaufte (Eintrittskarten, Verköstigung, Fahrbereitschaft etc.) und immer sensationellere Veranstaltungen. Arme Eltern! - Zurück zum Mai und zur Euphorie.
Im Februar waren die Bäume zu schneiden. Manchmal - je nach Schneelage - erst im März. Doch schon ab März begann man sich zu bücken. Da war im Garten die harte, nachwinterliche Erde umzugraben. Irgendwann im April wahrscheinlich kamen die Zwiebelsetzlinge in die Beete, schließlich irgendwann die Kartoffeln - und nach den „Eisheiligen“ die Setzlinge für Tomaten, Salate und vieles andere mehr.
Ende Mai konnte man sich erst einmal aufrichten. Da war das meiste erst einmal „geschafft“. (Bis dann den ganzen Sommer lang das „Auskrauten“, d. h. das Entfernen von „Unkraut“ den Menschen wieder zum Bücken zwang. Nicht anders später das Ernten.)
Ich habe den Mai als einen Monat in Erinnerung, in dem man sich aufrichtete, leichter ging, freier lebte, das Gesicht für einige Momente in die Sonne hielt, die Freibäder öffneten, die Kinder auf der Straße spielten, die Haustüren offen standen, die Geranien auf den Fenstersimsen blühten und ihren wunderbar herben Duft verströmten. Beim Nachbarn in unserer Sackgasse mit sechs Häusern - einem Landwirt und Schmied - waren die Schwalben eingezogen, und der Geruch von verbranntem Horn zog durch die Fenster. Mein Vater auf seinem Schneidertisch auf der Höhe der Fenstersimse kam ohne elektrisches Licht aus und sah im Schneidersitz die einfache Welt an unserer Sackgasse vorüberziehen: mal eine Schafherde, mal einen ersten Traktor, mal ein Fuhrwerk, mal einen amputierten Akkordeonspieler, mal einen Schrotthändler (aus einer „eingetauschten“ Schüssel essen wir nach über 60 Jahren immer noch unseren Salat), mal Kinder, die aus der Schule kamen, mal einen Kohlewagen, selten ein Auto.
Ende Mai konnte man sich erst einmal aufrichten.
Der Monat Mai ist für mich, der ich als Kind die Passionszeit intensiv miterlebte und mitfühlte, den April als wechselwendisch und unzuverlässig in Erinnerung habe als ein Zwischenstadium zwischen erstem Strecken und nochmaligem Beugen, der Mai ist für mich der Monat des befreiten, aufrechten Gangs.
Der Mai ist für mich der verführerische Monat des leichteren Weges. Euphorisch, beseelt, entlastet, frei.
Der christliche Glaube ist euphorisch.
Eu-phoria heißt „leichtes Tragen“.
Christlicher Glaube macht Last leicht.
Er lädt ein zum Tanz trotz schwerer Beine.
Er lädt ein zum Lied trotz belegter Stimme.
Er lädt ein zum Dank trotz erfahrener Entbehrung.
Er lädt ein zum Leben angesichts der Macht des Todes.
Ich lade Sie ein, das „Aufrecht-Gehen“ zu üben.
Ich lade Sie ein, Lasten abzulegen. (Ich meine nicht, zu delegieren, ich meine wirklich wegzugeben. Dienstlich geht das. Persönlich geht das nicht.)
Ich lade Sie ein, sich entlasten zu lassen durch Gedanken und Vorarbeit anderer, zum Beispiel in den PASTORALBLÄTTERN.
Doch dieser „leichtere Weg“ führt im Konzert der Religionen, Meinungen und Meldungen wohl nur über Passion und Ostern. Wenn nicht, dann haften wir im Dreck, es zieht uns die Schuhe aus, wir stecken fest.
Wenn ich Schülern oder Konfirmanden den Begriff Versöhnung erklärt habe, wenn ich verdeutlichen wollte, was das Zentrum christlichen Glaubens ist, dieser „fröhliche Tausch“ - sagt Luther - meiner Schuld in Jesu Schuld, meines Todes in seinen Tod, seines Lebens in mein Leben („Nimm und iss, das ist mein Leib, mein Blut“), dann machte ich das an der griechischen Wortbedeutung des Begriffes Versöhnung klar: katalagge - Stellenwechsel.
Man stelle sich eine Wippe vor. Der eine sitzt unten, der andere oben, der eine im Dreck, der andere in lichter Höhe. Der unten ist der Mensch, der oben ist Gott. Und nun legt Gott das entscheidende Pfund drauf, seinen Sohn, zieht den Menschen aus dem Dreck und sitzt nun selbst darin.
Für uns der „leichtere Weg“.