Liedpredigt: Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort (EG 193) - Martin Luther 1543

Wo gehst du hin, wenn du den Boden unter den Füßen verlierst? Wo gehst du hin, wenn dich keiner versteht, wenn du dich verraten und verlassen fühlst? Wo gehst du hin mit deiner Wut im Bauch, mit deinen verletzten Gefühlen, mit dem Hass, der auf einmal da ist, wenn andere dir in den Rücken fallen und dich fertigmachen wollen?
Wo gehst du hin, wenn das Chaos ausbricht, wenn alles durcheinandergerät, wenn auf einmal alles gegen dich zu stehen scheint? Wirst du kopflos und fliehst? Ballst du die Fäuste und gehst zum Gegenangriff über? Oder lässt du resigniert die Hände sinken?

1541 überrennt Sultan Süleiman I. mit seinen Truppen Ungarn und bedroht Wien. Der Islam steht vor den Toren Europas. Ein Gerücht macht die Runde: Der Papst hat sich mit dem König von Frankreich und dem Sultan verbündet, um die abgefallenen Evangelischen und ihre Länder wieder unter seine Oberhoheit zu zwingen.
Fake news! Schon damals hat es sie gegeben: falsche Nachrichten, abenteuerliche Verschwörungstheorien. Sie werden geglaubt, damals und heute. Sie versetzen die Menschen in helle Aufregung.

Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen beauftragt seine Geistlichen, die Gemeinden in Predigt und Gebet vor der Türkengefahr zu warnen und dafür zu beten, dass die Bedrohung abgewendet wird. Sein Auftrag ergeht auch an Martin Luther. Der ist in diesen Jahren immer wieder krank. Er wird heimgesucht von Depressionen und Ängsten vor dem Ende der Welt. Nachrichten von Märtyrern für die evangelische Sache stürzen ihn in tiefe Verzweiflung. Luther sieht die Reformation bedroht von den Türken. „Mohammedaner“ nennt er sie. Für ihn sind sie „die Zuchtrute des Teufels“. Die zweite Bedrohung geht vom Papst aus. Paul III. ist für Luther damals der Feind Christi, der Antichrist. Er führt die Seelen der Menschen mit seiner falschen Lehre ins Verderben. Es ist eine Zeit, in der alles durcheinandergerät. Verzweiflung, Wut greifen um sich. Auf einmal scheinen alle gegen Luther und die Reformation zu stehen.

Das ist die Situation, in der Luther das damals berühmteste und zugleich berüchtigtste Lied der Reformationszeit schreibt: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“. Unter der Nummer 193 steht es bis heute in unserem Gesangbuch. Singen wir es zusammen.

„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steure deiner Feinde Mord“.

„Mord“ ist kein Wort, das wir im evangelischen Gesangbuch erwarten. Dabei ist das, was wir gesungen haben, schon eine stark abgemilderte Form des Liedtextes.
Berüchtigt war das Lied wegen der ursprünglichen Worte Luthers aus dem Jahr 1543:

„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steu‘r des Papstes und Türken Mord,
die Jesu Christum, deinen Sohn, / stürzen wollen von seinem Thron.“

Luther versah das Lied in den ersten Drucken mit der Vermahnung: „Liebe Christenkinder, singet und betet getrost wider die zwei rechten und größten Erbfeinde Christi und seiner Glieder …“
https://de.wikipedia.org/wiki/Erhalt_uns,_Herr,_bei_deinem_Wort - aufgesucht am 20. März 2017.

Sein Wunsch wurde erfüllt. Das Lied wurde zum Protestgesang der Evangelischen. In den katholischen Gebieten wurde es verboten und verfolgt. Es hat über Jahrhunderte hinweg die Atmosphäre zwischen Evangelischen und Katholischen vergiftet.

Wieder einmal sehen wir in diesem Jubiläumsjahr der Reformation: Martin Luther war kein Heiliger. Er war verzweifelt darüber, wie die Weltgeschichte sich entwickelte, bedrängt von den Sorgen, dass sich die Feinde des Evangeliums mit Gewalt durchsetzen könnten. Der neue Glaube drohte unterzugehen. Luther war nie „einer von den sanften Heinrichen“, wie Ernst Bloch sagte. Zeitlebens blieb er ein leidenschaftlicher Mensch. Aber gerade in seinen alten Jahren war er ein jähzorniger, aufbrausender Mensch und scheute nicht vor unflätigen Beleidigungen seiner Gegner zurück. Das macht das Lied für uns heute befremdlich. Die Zeiten haben sich gewandelt. Wir sehen in den Katholiken inzwischen Glaubensgeschwister. Wir erkennen, dass uns im Glauben mehr verbindet als trennt. Wir feiern gemeinsam Gottesdienst, wo immer es möglich ist. Damals ist das undenkbar.
Was mich dennoch an diesem Lied fasziniert, das sind zwei Dinge: die Leidenschaft, die aus ihm spricht, und der Weg, auf den es uns mitnimmt.

Wohin geht Luther mit seinem Gefühlschaos? Ein Leben lang hat sich Martin Luther mit den Psalmen beschäftigt. Von dort her kennt er die Adresse für seine Wut, seine Verzweiflung, seine Angst und seinen Hass. Von den Psalmbetern weiß er: Wer verzweifelt ist, der darf auch einmal Ausgewogenheit und Augenmaß über Bord werfen. Wer verzweifelt ist, hat das Recht, zu schreien. Wer sich ausgeliefert und bedroht fühlt, der darf nicht nur sanft bei Gott anklopfen, sondern mit aller Wucht mit seinen Fäusten an die Tür Gottes hämmern. Der darf seine Not hinausschreien: Gott, hilf mir!
Das ist keine Methode nach dem Motto: Dampf ablassen, dann fühle ich mich besser. Gott hört dieses Schreien wirklich. Er hat versprochen, uns in unseren Nöten nicht allein zu lassen. Er öffnet die Tür und es fällt Licht in das Gefängnis unserer Ängste, unserer Wut, unserer Sorgen.

Das ist das eine, das ich hier von Luther lerne: den Mut zur Leidenschaft. Das andere ist der Weg, auf den er mich in seinem Lied mitnimmt. Luther schreit zu Gott, aber er schreit nicht: „Gott, mach endlich Schluss mit diesen Angriffen! Räum auf mit unseren Feinden!“ Er schreit zu Gott: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort.“
Das ist zuerst sicherlich die Bitte, dass das Evangelium von der Gnade Gottes, das Luther 1517 wieder entdeckt hatte, nicht wieder verloren geht. „Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir“, hat Nikolaus Graf Zinzendorf zweihundert Jahre später gesungen.

Das ist andererseits aber auch etwas, was Luther in seinem Leben immer wieder getan und gelehrt hat: Wenn du dich von Gott ganz und gar verlassen fühlst und im Chaos unterzugehen drohst, dann geh und hämmere an seine Tür, schrei deine Verzweiflung hinaus und halte ihm sein Wort vor:
„Du, Gott, bist doch der Herr der Geschichte. Vor dir, Jesus, sollen sich doch alle Knie beugen und bekennen, dass du der Herr aller Herren bist. Greif du doch ein! Beschirm deine arme Christenheit, die Verfolgung leidet! Kämpfe du für uns!“

„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“. Das kann aber auch heißen: In aller Verzweiflung will ich mich, Gott, an deinem Wort ausrichten. Ich will fragen, welche Wege du mir in diesem Chaos aufzeigst. Ich will mich an deinem Wort orientieren. Ich will in meiner Verzweiflung und im Hass, die diese Angst auslösen, nicht vorbeigehen an deinem Wort. Ich will trotzdem auf die Worte Jesu hören:
„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ (Mt 5,44)
„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5,9)
Aus deinem Wort, Gott, will ich Mut schöpfen, sanften Mut. Ich will Geduld lernen, nicht vorschnell und unbedacht oder gar gewaltsame Lösungen zu suchen.
Vielleicht hat sich Luther aus diesem Grund nie der Kreuzzugspropaganda seiner Zeit gegen die Türken angeschlossen.

„Wir wurden von Boko Haram regelrecht überrannt und mussten um unser Leben rennen. Sie zerstörten unsere Kirchen, Schulen, Häuser. 9.000 Menschen aus unserer Gemeinde wurden getötet. Meine Familie und ich sind zusammen mit vielen Menschen in den Busch geflüchtet. Zu Fuß sind wir zwischen 100 und 200 Kilometer gegangen. Viele ältere Menschen sind an Herzversagen oder Erschöpfung gestorben.“ (Badische Zeitung, Sa, 14. Mai 2016)
Pfarrer Ephraim Kadala und die „Kirche der Geschwister“ waren Opfer der Terroristen und wurden von ihnen aus Nordnigeria vertrieben. Leider keine „fake news“, sondern bittere Realität. Nicht nur für Christinnen und Christen in Nigeria, sondern in unseren Tage auch in anderen Ländern: Pakistan, Indien, Ägypten und vielen, vielen mehr.
Die Christen konnten inzwischen wieder nach Nordnigeria zurückkehren. Sie arbeiten daran, Christen und Muslime zu versöhnen. Die „Kirche der Geschwister“ bringt Pfarrer und Imame zusammen. Inzwischen gibt es gute Entwicklungen. So informieren die Muslime die Christen, wenn sie etwas Verdächtiges beobachten. Wenn die Christen Gottesdienste feiern, versammeln sich außerhalb der Kirchen junge Muslime, um sie zu schützen. Ephraim Kadala sagt: „Boko Haram hat uns vieles gelehrt: Wir müssen zusammenstehen, Muslime und Christen, um diese Extremisten zu überwinden.“
Die Christen in Nordnigeria folgen den Worten Jesu: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Angst und Wut müssen sich nicht in Hass und Gewalt entladen. Luthers Lied wurde lange als Kampflied missbraucht. Es kann uns aber auch in eine andere Richtung weisen: Wir können mit unserem Schrei nach Recht und Gerechtigkeit an Gottes Tür hämmern: „Greif du selbst ein!“ Wir müssen unsere Gegner nicht kriegerisch bekämpfen. Zusammen mit den Geschwistern im Glauben können wir den Weg der Versöhnung gehen, den Jesus uns gewiesen hat.
„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“. Ein Lied, entstanden in chaotischen Zeiten. Ein Lied, das Chaos überwinden hilft.
Wenn du den Boden unter den Füßen verlierst, wenn dich keiner versteht, wenn du dich verraten und verlassen fühlst, wenn auf einmal alles gegen dich zu stehen scheint. Dann geh hin und hämmere an Gottes Tür. Schrei deine Verzweiflung hinaus und halte ihm sein Wort vor: Du, Gott, bist doch der Herr der Geschichte. Greif du doch ein! Kämpfe du für mich! Kämpfe für uns!

Johann Sebastian Bach hat Martin Luthers „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ als Kantate (BWV 126) vertont. Er lässt die Kantate mit einem anderen Lutherlied enden: „Verleih uns Frieden gnädiglich“. In unserem Gesangbuch findet es sich unter der Nummer 421. Ich finde, das ist auch ein wunderbarer Schluss für diese Predigt.

Kyrie:
Jeden Abend: Bilder von Bombeneinschlägen.
Sie machen mich wütend, Gott.
Maschinengewehrsalven übertönen
die Stimmen der Waffenlosen.
Wer schützt die Alten, die Frauen, die Kinder?
Komm, Gott, greife du ein!
Ergreife Partei für die Wehrlosen.
Komm, Heiliger Geist, Kraft zur Versöhnung,
schenk neue Fantasie zum Frieden.

Bausteine für die Fürbitten:
Du, Gott, weißt um alle Verwüstung,
alle Verzweiflung, alles Entsetzen,
alles Leiden, alle Trauer in ...
Lass uns immer wieder zu dir hinfliehen und dich anflehen:
Schenke deinen Kindern die Kraft,
auf dem Weg des Friedensstiftens zu bleiben,
den Verstand,
die Propaganda der Mächtigen zu durchschauen,
und die Kraft zur Versöhnung
über unüberwindbar scheinende Gräben hinweg.

Psalmvorschlag: Psalm 43
Evangelium: Matthäus 5,43-47
Lesung: Römer 12,14-21
Liedvorschläge: 166,1.4.5 (Tut mir auf die schöne Pforte)
198,1 (Herr, dein Wort, die edle Gabe)
193 (Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort)
421 (Verleih uns Frieden gnädiglich)
170 (Komm, Herr, segne uns)
Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Pastoralblätter im Abo

Gottesdienste komplett und fundiert vorbereiten.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen