Zur Idee des Gottesdienstes
Im Zentrum des Lyrik-Gottesdienstes steht ein Gedicht des Lyrikers Jan Wagner. Das Gedicht „hamburg - berlin“ soll im Laufe des Gottesdienstes mehrfach vollständig erklingen und im Idealfall auswendig vorgetragen werden. Die Gemeinde soll das Gedicht ausschließlich hörend und nicht lesend erfahren, sodass auf einen Abdruck zu verzichten ist. Die liturgischen Texte und die Predigt greifen Motive aus dem Gedicht auf. Dieser Gottesdienst wurde erstmals im November 2017 in der Ofener Kirche in Oldenburg (Oldb) gefeiert.
Gedicht und Autor; hamburg - berlin
der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators.
ein dorf mit dem rücken zum tag. in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen. rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels.
in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor:
gott hielt den atem an.
Jan Wagner: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte, Berlin 20172, S. 20.
Jan Wagner (geb. 1971) ist Lyriker, stammt aus Hamburg und lebt in Berlin. Seit seinem ersten Gedichtband „Probebohrung im Himmel“ (2001) ist er immer wieder für seine Kunst ausgezeichnet worden. So gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse und erhielt im Oktober 2017 den Georg-Büchner-Preis für sein Gesamtwerk.
Predigt
Im ICE habe ich einen Sitzplatz am Fenster. Auf dem ausgeklappten Tischchen steht mein Laptop. Ziel ist wieder einmal die Lutherstadt Wittenberg. Als der Zug dann aus dem Hamburger Hauptbahnhof losfährt - nächster Halt: Berlin-Spandau - , ja, ich gebe es zu, da schaue ich aus dem Fenster und suche den Landstrich, den Jan Wagner das „stille Land“ nennt. Suche das Dorf mit dem Rücken zum Tag. Suche die Bäume mit den dunklen Kapuzen. Das riesige Kartenspiel der Felder. Die beiden Windräder mit ihrer Probebohrung. Ich suche … und finde nichts. Ein wenig enttäuscht wende ich mich irgendwann wieder meinem Laptop zu. Ist das stille Land nur eine Phantasie des Dichters? Oder liegt es etwa daran, dass mein Zug gar nicht angehalten hat? Ist das stille Land nur im Stillstand zu sehen?
Die kleine Kirche ist typisch für ihre Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Architekt Otto Bartning sie serienweise bauen lassen: kleine hölzerne Zufluchtszelte. Innendrin ist überall Holz, das Wärme ausstrahlt. Und nach oben hat man einen freien Blick in den hölzernen Dachstuhl. Und dort im Übergang zwischen Wänden und Dach sind die einzigen Fenster: Ein schmales Lichtband, das sich einmal um die ganze Kirche zieht. Geborgen in einem Zufluchtszelt, weit weg von der Welt da draußen - das war die Idee von Otto Bartning. Als eine dieser Kirchen 1982 in das niedersächsische Ahlhorn umgesetzt wurde, waren alle begeistert. Umgeben von Wald und mehreren Seen, am Rande einer kirchlichen Freizeitstätte schien die kleine Holzkirche wie für diesen Platz geschaffen. Doch dann begann ein Streit. Denn die Ahlhorner entschieden sich, die hölzerne Nische, in der der Altartisch steht, zu entfernen und stattdessen ein Panoramafenster einzubauen, das direkt auf einen der Seen hinauszeigt. Die Gegner protestierten: Die ganze Idee von Otto Bartning, der Zufluchtsort weit ab von allem da draußen, wird doch kaputt gemacht: „Gott findet ihr in eurem Inneren und nicht, wenn ihr durch das Fenster auf einen Fischteich guckt!“ Aber die Ahlhorner setzten sich durch. Wer heute das Kirchlein betritt, sieht hinter dem Altar ein lebendiges Altarbild. Ich finde es unglaublich beruhigend. Da sieht man, wie sich Wellen kräuseln, Bäume im Wind biegen, Wolken sich aufbäumen. Und manchmal sieht man eine Entenfamilie von links nach rechts durchs Bild schwimmen. Aber hat dieses Altarbild nun etwas mit Gott zu tun? Oder kann man zumindest staunend über dieses Naturbild, über dieses Paradies ahnen, dass es da draußen eine Schöpferkraft gibt?
Die Bibel erzählt zu Anfang, wie der Mensch aus dem Paradies vertrieben wird. Heute müsste man die Geschichte umkehren: Die Geschichte des modernen Menschen erzählt davon, wie Gott aus dem Paradies vertrieben wurde. Früher war Gott für die Menschen alles. Und alles, was für die Menschen unerklärlich war, musste von Gott kommen. Den Regenbogen? Zaubert Gott an den Himmel. Die Blitze? Schleudert Gott vom Himmel. Die Dürre? Ist eine Strafe Gottes vom Himmel. Die Heilung des unheilbar Kranken? Ist ein himmlisches Wunder, gelobt sei Gott in Ewigkeit! Je mehr nun aber die Wissenschaften voranmarschierten und das himmlische Paradies durchforsteten, desto kleiner war die Nische, die man dem Eingeborenen namens „Gott“ noch ließ. Die Wissenschaften nahmen immer neue Probebohrungen im Himmel vor und erklärten ein himmlisches Phänomen nach dem anderen: Der Regenbogen? Eine prismatische Brechung des Lichts. Der Blitz? Eine elektrostatische Entladung. Die Dürre? Durch den Klimawandel hausgemacht. Die Heilung des unheilbar Kranken? Der war gar nicht unheilbar, gelobt sei die moderne Medizin in Ewigkeit. Amen. Und Gott zog sich aus dem zerbohrten Himmel zurück, in das hölzerne Zufluchtszelt Otto Bartnings.
Als der weltberühmte Symbologe Professor Robert Langdon der mysteriösen Einladung in das Guggenheim-Museum in Bilbao folgt, ahnt er noch nicht, dass er in dieser Nacht wieder einmal in eine irre Jagd auf Leben und Tod durch halb Spanien hineingerät. Ja, der Bestsellerautor Dan Brown hat wieder einmal einen neuen Religions-Verschwörungs-Thriller geschrieben. Und nach „Illuminati“ und dem „Da-Vinci-Code“ geht es wieder einmal um die ewige Feindschaft zwischen Religion und Wissenschaft. Dieses Mal geht es um die Urfragen des menschlichen Lebens: Woher kommen wir und wohin gehen wir? In dem Roman hat ein Wissenschaftler die Antworten gefunden und kann sie beweisen. Und weil die Antworten nichts mit Gott zu tun haben, wären sie der endgültige Sieg der Wissenschaften über die Religionen. Alle Probebohrungen wären erfolgreich abgeschlossen. Die Religionen wären ein für alle Mal erledigt. Die letzte Nische für Gott wäre zerstört. Und so versucht im Roman natürlich eine gewaltbereite religiöse Sekte alles, um die Veröffentlichung dieser Antworten zu verhindern. Ich gebe es zu, ich habe den Roman mit Spannung verschlungen, auch weil diese mysteriösen Antworten erst ganz am Ende des Buchs genannt werden. Und weil ich wissen wollte, ob die Antworten auf die Urfragen der Menschen - Woher kommen wir? Wohin gehen wir? - auch meinen Glauben betreffen würden. Steht in diesem Roman tatsächlich ein wissenschaftlicher Beweis dafür, dass es keinen Gott gibt? Am Ende war ich ein wenig enttäuscht und beruhigt zugleich. Die Antworten am Ende des Romans überzeugten mich nicht und betrafen mich nicht. Ich glaube immer noch an Gott. Im Grund genommen liefen die Antworten darauf hinaus, dass der Kreislauf der Natur ebenso wie die Evolution allein auf Naturgesetzen beruht und nicht auf einen Schöpfergott. Tja, so neu ist diese Behauptung auch nicht.
Wer aus dem Fenster schaut und Gott in der Natur sucht, der wird, wie Kohelet es beschreibt, einen ewigen Kreislauf sehen, von der Sonne, die auf- und untergeht, vom Wasser, das ins Meer fließt und zurückkommt, von Tag und Nacht, von Wolken und Wind. Ja, das Auge sieht sich daran niemals satt, und doch sieht es keinen Gott. Jesus sprach: „Denen da draußen ist es in Gleichnissen gegeben, dass sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und dass sie mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen.“ Wir können Gott nicht aus der Natur, nicht aus der Welt beweisen. Dann würden wir ja auch ewig der Wissenschaft hinterherlaufen und Gott in immer wieder neue kleinere Nischen zwängen. Gott ist aber der ganz Andere.
Und so redet Jesus von Gott konsequent in Gleichnissen, in Bildern. Er ist ein richtiger Dichter, ein Künstler! Er spricht in Bildern von Gott, weil man gar nicht anders von Gott sprechen kann. Wir dürfen uns nur nicht an den Bildern festklammern. Das ist mit dem Bilderverbot gemeint. Wenn Jesus von Gott als Vater spricht, ist das nur ein Bild und meint nicht, dass Gott tatsächlich ein alter Mann ist. Und in den Bildern und Gleichnissen Jesu leuchtet dann die ganz andere Welt, die Welt Gottes, auf. Das ist genauso, wie wenn man ein Gemälde betrachtet, ein Musikstück hört oder ein Gedicht liest. Das ist mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Farben, Tönen oder Worten. Da tun sich neue Welten auf, die unsere Welt überschreiten. Und darum beschwert sich auch niemand bei Claude Monet, dass seine Bilder nicht realistisch sind und die Menschen ein so verschwommenes Gesicht haben. Und darum beschwert sich auch niemand bei Jan Wagner, dass die Bäume gar keine richtigen Kapuzen haben.
In Ahlhorn haben sie es richtig gemacht. Sie haben die letzte Altarnische für Gott abgebrochen und stattdessen ein großes Fenster eingebaut. Nicht, um an Stelle von Gott nun die Natur anzubeten. Gott bewahre! Nein, sondern um hinauszuschauen in die Welt. Und sie haben vor das Fenster einen Altar gestellt mit einer Bibel darauf. Über und durch die Bibel hinweg, über und durch die Worte der Heiligen Schrift hinweg, ahnen wir, dass sich hinter dieser Welt noch eine andere Welt verbirgt, die manchmal schon in unsere Welt hinein durchleuchtet, in Bildern, in Tönen, in Worten:
Gedicht
Aber dann konnte er nicht mehr und prustete los vor Lachen: „Ach, ihr Menschen, was macht ihr euch doch für einen Kopp!“
Kyrie:
Diese Welt mit all ihren Wundern, mit ihren Pflanzen, Tieren - na gut, auch mit den Menschen - wer wollte sie haben? Die Stürme tosen und das Klima spielt verrückt. Selig, wer noch ein hübsches Fleckchen Natur findet. Die Machthaber tosen und die Politik spielt verrückt. Selig, wer noch ein friedliches Fleckchen Land findet. Vor Augen sind doch Katastrophen, Kriege, Unheil, Tod. Wer wollte diese Welt haben? Zum ersten, zum zweiten … zum dritten! Damit geht diese Welt an den freundlichen Gott in der zweiten Reihe. Herr, erbarme dich!
Gloria:
Und auch wenn wir der Welt oft resigniert den Rücken zudrehen, so deckt doch der freundliche Gott aus der zweiten Reihe jeden Tag ein neues Blatt auf. Und jeder neue Tag fügt sich Seit an Seit, Feld an Feld, an den vorigen. Und bunt wird das Blatt, das vor uns liegt. Und bunt wird das Leben, das vor uns liegt. Und wir staunen und singen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Gebet:
Ewiger Gott des Himmels und der Erde, die Woche hält mitten auf der Strecke. Zwischen Samstag und Montag halten wir inne, heute, an deinem Tag. Still liegt unser Leben vor dir. Still stehen wir hier und strecken uns nach dir. Komm uns entgegen in deinem Wort, in der Musik, in Brot und Kelch. Lass uns nur einen Windhauch, einen Atemzug von dir spüren. Und wir werden leben.
Psalmvorschlag | Psalm 104,1.2.14.16.27.29.30 |
| (verzahnt mit den Gedichtzeilen) |
Lesung: | Kohelet 1,5-9 |
Evangelium: | Markus 4,10-12 |
Liedvorschläge: | 506,1-4 (Wenn ich, o Schöpfer, |
| deine Macht) |
| 382 (Ich steh vor dir mit |
| leeren Händen, Herr) |
| 153 (Der Himmel, der ist) |
| 379 (Gott wohnt in einem Lichte) |
| 222 (Im Frieden dein) |