Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.
1. Johannes 4,16 (E)
„Hallo, Sabine! Du bist verliebt?“
„Nein, Anita, das bin ich nicht!“
„Oh, dann habe ich mich wohl getäuscht, als ich dich kürzlich von Weitem Arm in Arm mit einem netten Mann laufen sah.“
„Nein, du hast dich nicht getäuscht. Du verwendest nur das falsche Wort. Was den besagten Mann und mich verbindet, ist mehr als Verliebtheit. Wie aber soll ich beschreiben, was uns zueinander hinzieht? Ich würde sagen, es ist Liebe.“
Liebe und Verliebtheit, zwei Worte für annähernd das Gleiche? Oder sind es Worte für ganz Verschiedenes? Wann ist es Verliebtheit und wann ist es Liebe, was zwei Menschen miteinander verbindet?
Die Suche nach einer Antwort lenkt meinen Blick auf ein biblisches Buch, in dem viel von der Liebe steht und in dem es heißt: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“
Gehe ich an diesem Satz entlang, dann lese ich zuerst: Gott ist Liebe! Damit ist die Liebe kein Gefühl, sondern eine Person. Das Gegenüber dieser Liebe ist ebenfalls eine Person, das Gegenüber der göttlichen Liebe ist der Mensch. Dieser Erkenntnis entnehme ich: Liebe setzt einerseits eine Beziehung voraus und andererseits zeigt sie sich in einer Beziehung.
Wenn ich daraus jedoch folgere, dass Liebe sich mit Gegenliebe paaren muss, werde ich dem Wesen der Liebe nicht gerecht. Weil Gott der Ursprung der Liebe ist, lässt sich das Wesen der Liebe nur an seinem Verhalten gegenüber seinen Geschöpfen erkennen. Wenn in der Bibel von Gottes Liebe gesprochen wird, dann geschieht dies anhand von Geschichten, in denen Gott seine Liebe bedingungslos, also ohne Anspruch auf Gegenliebe, verströmt. Gott liebt, weil er lieben will. Er liebt, obwohl Menschen seine Liebe ignorieren und sich von ihm abwenden.
Gottes Reaktion auf verweigerte Gegenliebe zeigt sich aber nicht in Abkehr, sie zeigt sich vielmehr im Festhalten an einer Beziehung, die möglicherweise längst einseitig geworden ist. Gottes Liebe stellt keine Forderungen. Sie ringt, manchmal sogar verzweifelt, um das Vertrauen ihres Gegenübers, ohne es unter Druck zu setzen. Gottes Liebe lässt dem Gegenüber die Freiheit, sich für oder gegen sie zu entscheiden. Sie fürchtet nicht, die andere/den anderen zu verlieren. Sie will nicht besitzen, sondern lieben. Trotzdem hofft sie auf Gegenliebe, denn sie will die anderen teilhaben lassen an dem Geschehen, das alle Gefühle übersteigt. Wenn Menschen sich auf Gottes Liebe einlassen, werden sie Teil seiner alles übersteigenden Liebe und sie werden fähig, Gott ihrerseits zu lieben.
Gott lieben heißt seine Gebote halten. Und diese Gebote haben immer beide im Blick, Gott und den Nächsten. Gottes Gebote nehmen mich in die Pflicht, aber sie sind keine Pflichten. Sie stecken vielmehr den Rahmen ab, in dem ich mich frei bewegen kann, ohne die Freiheit des anderen zu begrenzen oder gar zu beschneiden. Und damit kommt noch ein Weiteres ins Spiel: die Verantwortung. Es ist die Verantwortung für meine Nächsten, also für die Menschen, die wie ich Gottes geliebte Geschöpfe sind. Und genau darin unterscheidet sich das Gefühl der Verliebtheit von der wahren Liebe. Wenn ich mich für eine andere Person verantwortlich fühle, wenn ich nicht nur von mir her, sondern auch von ihr her denke, dann verbindet mich mit ihr mehr als ein Gefühl. Dann befinde ich mich in einem Raum, in dem ich mich ganz dem und der anderen hingeben kann, ohne mich selbst zu verlieren. In dieser vollkommenen Liebe hat Jesus Christus gelebt und gewirkt. Ihm nachfolgen heißt, den Weg der Liebe zu betreten.
Was aber bedeutet das konkret? Es bedeutet, in allen Irrungen und Wirrungen des Lebens Gott zuzutrauen, dass er mit seinen Geboten nichts Unmögliches von mir fordert. Meinen Nächsten das gleiche Recht wie mir selbst zu gewähren, ihnen mit der Ehrlichkeit zu begegnen, die ich mir von ihnen wünsche, ihnen ihren Besitz weder zu neiden noch zu entwenden, das sind keine unmöglichen Forderungen. Das sind Selbstverständlichkeiten, die ihren Grund allein in Gottes Liebe haben. In einer Liebe, die allen Menschen gilt, den Fremden wie den Nahen, den Einheimischen wie den Flüchtlingen, aber auch dem Freund wie dem Feind. In Gottes Liebe bleiben heißt nicht mehr und weniger, als in den anderen Menschen Personen zu sehen, die Gott ebenso liebt wie mich und für die er mir die Verantwortung übertragen hat, die er selbst in seiner Liebe schon längst für mich übernommen hat.