Ich bin Protestant. Ich bin einer, der streitet. Ich bin einer, der sucht.
Kinder haben diesen Satz gefunden auf der Suche nach dem, was wesentlich ist.
Seither sprechen auch die Erwachsenen beim Abendmahl: „Ich teile mit dir, was Gott uns schenkt.“
Ahmet, ich teile mit dir, was Gott uns schenkt.
Jenny, ich teile mit dir, was Gott uns schenkt.
Françoise, ich teile mit dir, was Gott uns schenkt.
In diesem einfachen Satz liegt alles verborgen,
die Dramatik des Teilens und das Glück gelingender Gemeinschaft.
Wird das, was Gott uns schenkt, aufgeteilt in bessere und schlechtere Teile oder wird gar einem Menschen oder einem Volk bestritten und genommen, was Gott ihm schenkt, dann herrscht Krieg.
Über 20 Kriege zählt die Welt in diesen Wochen.
Wir bringen in die Notregionen eine Menge Kraft, Geld, Know how und Engagement ein. Mit Liebe, Zeit und großer Anstrengungen sind auch in unserem Land Zahllose bereit, zu helfen.
Doch gleichzeitig schießen sie in Kriegen mit Waffen, die auch wir geliefert haben.
Wir saßen am Abend des 11. September 2001 zusammen, um unseren Teil für ein fröhliches Fest der Nationen, eine heitere und ausgelassene Begegnung der Kulturen vorzubereiten. Da war nicht Deutscher oder Türke. Da war nicht Moslem oder Christ. Da waren wir uns alle eins im Entsetzen, in der Trauer. Wir waren entsetzte, traurige Menschen, Väter, Mütter. Menschen in Sorge.
Eine Welt ohne Ehrfurcht, eine Welt ohne die Fähigkeit,
zu staunen - unsere Welt - , eine Welt der raschen
Befriedigung und des sich stets steigernden Kitzels, eine Welt des „Mein der Spaß und dir der Hass“ ist eine mörderische Welt.
Ist es nicht bewusst, dass Gewinn hier Elend dort bedeutet?
Ist es nicht bewusst, dass mehr hier weniger dort bedeutet?
Wir denken nach über die Möglichkeit, uns noch mehr zu sichern. Das verstehe ich gut. Wir alle wollen unseres Lebens und des Lebens unserer Kinder sicher sein.
Was mir fehlt, ist das intensive Nachdenken darüber, dass wir selbst ein Grund sind für Hass und Armut. Die Selbstgerechtigkeit der westlichen Kultur, die Besserwisserei, gelegentlich auch die Kälte sind immens.
Wir leben, als ob es die 30 Millionen Hungertoten im Jahr nicht gäbe.
Wir leben, als ob es die 50 Millionen Flüchtlinge nicht gäbe.
Wir leben, als seien wir der Mittelpunkt der Welt. Dabei haben Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno schon im 16. Jahrhundert dieses Missverständnis ausgeräumt. Leo Tolstoi hat das auf seine Weise - fast verzweifelt - geschrieben Anfang des 20. Jahrhunderts.
Es ist auch an uns, uns selbst zu besinnen.
Das Reden von Gott beginnt mit dem Staunen über das, was er uns schenkt.
Die Felder vor unserer Stadt - wir teilen, was Gott uns schenkt.
Die Arbeitsplätze in unserer Stadt, die Möglichkeit zu Schulbildung - wir teilen, was Gott uns schenkt.
Die Früchte der Felder, Äcker und Gärten - wir teilen, was Gott uns schenkt.
Der Gesang der Singvögel und das Spiel der Insekten - wir teilen, was Gott uns schenkt.
Der Glanz der Sterne und die Erfahrung der Alten - wir teilen, was Gott uns schenkt.
Die Ebene des Rheingrabens und die Hügel des Kraichgaus - wir teilen, was Gott uns schenkt.
„Not lehrt teilen.“
Das ist auch so eine eigenartige Erkenntnis unserer westlichen Kultur.
Noch stirbt einer am Fanatismus des anderen.
Noch stirbt einer an der Oberflächlichkeit des anderen.
Noch stirbt einer am Tempo des anderen.
Noch stirbt einer am Besitz des anderen.
Noch stirbt einer an der Unfähigkeit des anderen, wirklich zu teilen, was Gott uns schenkt.
Wir Menschen sind eine kurze Episode in der Weltgeschichte. Die Steine, die Geduld der Flechten und Moose, die Vielfalt der Insekten und Gräser werden uns überleben.
Wir könnten leben als Schwestern und Brüder?
Die Bibel lehrt uns, aufrecht zu gehen.
Dazu müssen wir auf Augenhöhe leben.
Den anderen ins Angesicht schauen.
1852 schrieb Leo Tolstoi:
„Ein großer Gedanke kennt keine Grenzen.“
Und später:
„Auf zweierlei Dinge soll der Mensch niemals erzürnt sein: auf die, die er ändern kann, und auf die, die er nicht ändern kann“.
Er hat die nachdenkliche Erzählung geschrieben: „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ (Leo Tolstoi, Wie viel Erde braucht der Mensch, 96 S., Anaconda, ISBN 978-3-86647-443-7, 3,95 Euro)
Pachom wollte nach langem Suchen so viel Erde wie möglich. Am Ende bricht er erschöpft vom Umrunden des möglichen eigenen Besitzes zusammen. Die Erzählung endet: „Der Knecht nahm die Hacke, grub Pachom ein Grab, genauso lang wie das Stück Erde, das er mit seinem Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bedeckte - drei Meter -, und scharrte ihn ein.“
Es geht - wenn ich es recht verstehe - darum, dass dem Menschen, woher er auch immer stammt, was auch immer er geleistet hat, wohin auch immer er sich träumte - wenigstens in Frieden diese drei Quadratmeter Erde bleiben.
Etwas früher schrieb Tolstoi:
„Denke immer daran, dass es nur eine allerwichtigste Zeit gibt, nämlich: Sofort!“
Primo Levi hat ein Buch geschrieben: „Wann, wenn nicht jetzt?“
Vor wenigen Monaten habe ich im Berliner Dom gepredigt. Und habe gesagt:
„Heute fahren wir in Bussen Schülerinnen und Schüler nach Verdun. Oder Theresienstadt. Oder nach Berlin zur ehemaligen Mauer. Oder nach Polen, so wie wir nach Frankreich gefahren sind.
Wir können heilend über Grenzen gehen.
Im Krieg geht das nicht.
Das geht nur ‚jetzt’.“
Im Übrigen - Ihnen allen nach Urlauben, Ferien und hoffentlich guter Erholung - einen guten September im Dienst. Ich jedenfalls freue mich ausgesprochen über die Vielfalt und den Inhalt der September-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER.