Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
Prediger 3,11
Gleich beginnt der Gottesdienst. Sie schiebt ihr Fahrrad die letzten Meter und lächelt. Kommt immer rechtzeitig, gerade noch so. 84 Jahre ist sie jetzt alt. Man sieht ihrem Gesicht an, dass sie oft gelächelt und gelacht hat in ihrem Leben.
Sie ist die regelmäßigste Gottesdienstbesucherin unserer Gemeinde. So vielseitig wie ihre Begabungen, so scharfsinnig sind auch ihre Fragen. Immer noch liest sie in der Bibel, immer noch sucht sie nach Antworten. Das Vaterunser formuliert sie um an der Stelle, wo Gott uns nicht in Versuchung führen möge. Denn was sei das für ein Gott, der so was macht? Sie glaubt das jedenfalls nicht und will das nicht mehr so beten.
Und fragt mich, warum ich es noch so bete.
Und respektiert es gleichzeitig.
Und sie fragt nach Israel und Palästina.
Und freut sich über die jungen Menschen im Gottesdienst.
Und erinnert andere und mich an die verfolgten Christen in der Welt.
Und singt mit in der Osternacht um 0 Uhr.
Christ ist erstanden.
Sie ist ein nachdenklicher Mensch mit einem sehr wachen Geist. In allem Grübeln und Überlegen hat sie ihr Staunen nie verloren. Mit ihrem alten Fotoapparat geht sie bei Sonne in den Garten und fotografiert Blumen und Blüten. Die Fotos klebt sie auf Postkarten, die sie dann verschenkt oder verteilt oder verschickt. Und mir damit alles Gute zum Geburtstag und ein gesegnetes neues Lebensjahr wünscht.
Sie kann auch streiten, wenn sie will. Tritt ein für das, was ihr wichtig ist. Sie widerspricht und kämpft hartnäckig, wenn das dran ist. Aber sie ist nie nachtragend, und Versöhnung gehört bei ihr unbedingt dazu.
Mir fällt kaum ein anderer Mensch ein, der so sehr wie sie versucht hätte, das Werk Gottes zu ergründen. Weit ist sie gekommen. Gleichzeitig kommt sie aus dem Staunen nicht heraus. Trotz all der Widersprüche dieser Welt und trotz allen Scheiterns unserer menschlichen Vernunft und Moral.
Denn da ist nicht nur die Ewigkeit in unseren Herzen, sondern auch die kurze Sicht. Da sind auch Neid, Angst und Gewalt. Und Gott mag alles schön gemacht haben zu seiner Zeit, wie es beim Prediger heißt. Aber nicht alles, was wir machen, ist schön. Und nicht alles, was Gott schön gemacht hat, bleibt auch schön, wenn wir Menschen erst einmal Hand anlegen.
Der Mensch kann das Werk Gottes nicht ergründen, weder Anfang noch Ende. Kann der Mensch das Werk der Menschen ergründen? Ich weiß nicht, was schwieriger ist.
Am Ende kommst du nicht darum herum, dir einen Reim auf das alles zu machen, was dir im Leben begegnet. Und du musst einen Weg finden, dein Leben zu leben in allem, was geschieht.
Das Kleine zu bewundern.
Den Schmerz zu ertragen.
Dich am Licht zu erfreuen.
Großes Glück zu erleben.
Die Traurigkeit kommen, aber nicht siegen zu lassen.
All deine Tränen zu weinen und all dein Lachen zu lachen.
All deine Abschiede zu verkraften und all deine Feste zu feiern.
Der Segen ist gesprochen, die Orgel ist verklungen, der Gottesdienst ist vorbei. Sie verlässt die Kirche. Ich gebe ihr die Hand. „Einen schönen Tag wünsche ich dir“, sagt sie. „Den wünsche ich dir auch“, antworte ich. Und dann strahlt sie, egal, ob die Sonne scheint oder der Regen an die Kirchentür peitscht.
Sie geht zu ihrem Fahrrad, das am Kirchturm lehnt. Wenn sie sich gut fühlt, steigt sie auf und fährt los. Oder sie schiebt es nach Hause, damit sie nicht stürzt.
Nächste Woche kommt sie wieder, weiß ich. Mit ihrer Suche nach Antwort, mit frischen Gedanken und einem Lächeln.