Das Drama mit der dramaturgischen Homiletik – Ein hoffnungsvoller Abgesang

Liebe Trauergemeinde,
wir sind zusammengekommen, um Abschied zu nehmen: Abschied von der dramaturgischen Homiletik. Wir, die Predigtschaffenden, sind traurig und betroffen und können es noch gar nicht fassen, dass die dramaturgische Homiletik ihre Lebenskraft verloren hat. Oder haben wir sie ihr geraubt? Leider sind die genauen Umstände, unter denen unser geliebtes homiletisches Paradigma von uns gegangen ist, immer noch nicht restlos aufgeklärt. Manche meinen, dass die dramaturgische Homiletik unter einer dicken Decke aus Zuneigung langsam erstickt worden sei. Andere wiederum wollen bei ihr schon seit längerer Zeit Anzeichen großer Überstrapaziertheit wahrgenommen haben. Noch vor Kurzem wollte man auch noch die Kasualrede mit Hilfe der Dramaturgik optimieren! Vermutlich wurde es ihr irgendwann alles zu viel: zu viele Erwartungen, die man an sie hatte; zu viele Probleme, die man mit ihrer Hilfe lösen wollte. Dazu war sie, die dramaturgische Homiletik, zu Beginn doch gar nicht angetreten! Wie sehr muss sie gelitten haben beim Lesen und Hören mancher Beiträge, die in ihrem Namen auf Kanzeln und in Facebook-Gruppen veröffentlicht wurden!

Bei all der Trauer des heutigen Tages sollten wir Predigerinnen und Prediger deshalb auch nach der Mitschuld fragen, die wir an ihrem Ableben tragen. Und wir sollten der Frage nicht ausweichen, ob es nicht auch an der dramaturgischen Homiletik selber lag, dass sie so schnell zu groß für sich selber wurde. Ich sehe, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, langsam unruhig werden und mir wütende Blicke zuwerfen! Lassen Sie es mich deshalb ganz klar sagen, dass ich mich selber bei diesen kritischen Gedanken nicht ausnehme! Als Prediger und als Liebhaber der Predigt weiß ich doch aus eigener Erfahrung, was für eine Faszination von der dramaturgischen Homiletik einmal ausgegangen ist! Was war es doch für eine Offenbarung, als sie die Predigt zu Beginn ganz neu ins Bild setzte! Sie war für uns ein Ausweg aus den alten Sackgassen! Gelangweilt waren wir und auch unsere Zuhörerschaft von den üblichen Maschen, die so simpel gestrickt und so leicht zu durchschauen waren.
Zwischen braver Homilie auf der einen Seite und zwischen aktualitätssüchtiger „Was-will-der-Text-uns-HEUTE-damit-sagen?“-Strategie war die dramaturgische Homiletik unsere Befreierin aus dem homiletischen Sklavenhaus. Sie lehrte uns einen neuen Blick auf unsere Worte und sie brachte uns das Tanzen bei. Mit ihr ging es leichtfüßig und im Wechselschritt zur Kanzel. Sie ermutigte uns zu neuen Bewegungen, pardon „Moves“, die Kreativität und Spannung in die Predigt brachten! Auf einmal war uns klar, dass die Zeit des Reden-Über abgelaufen und die Zeit des Reden-In gekommen war! Bereitwillig folgten wir der dramaturgischen Homiletik, weil sie so unglaublich überzeugend auf uns wirkte. Da waren die wunderbaren und genialen Predigt-Beispiele ihrer Gründerväter- und -mütter, an denen man ablesen konnte, dass es hier nicht nur um eine neue, graue Predigttheorie ging. Die dramaturgische Homiletik beschenkte uns mit praktischem Handwerkszeug, das sich anscheinend jeder Prediger und jede Predigerin zu eigen machen konnte. Und sie machte nicht nur großzügige Geschenke: Sie schmeichelte uns auch. Mit ihrem Verständnis der Predigt als Kunst und mit ihrem Hang zu Literatur und Lyrik sprach sie den Künstler und die Poetin in uns an.

Dieser Rückblick auf die Anfangszeit unserer Liebe zur dramaturgischen Homiletik erfüllt uns hoffentlich mit Dankbarkeit. Für mich hat er aber auch etwas Bitteres, weil in der Rückschau auf den Anfang das Ende schon durchscheint. Die dramaturgische Homiletik ist gewiss nicht für alles verantwortlich, was in ihrem Namen verbrochen wird, aber sie beinhaltet viele Risiken und Nebenwirkungen, die uns erst zu spät deutlich geworden sind. Da ist zum Beispiel die schon gerade angesprochene poetische Nebenwirkung.
Leider ist nicht allen von uns das Charisma der Lyrik gegeben. Doch im Laufe der Zeit gerieten immer mehr dramaturgische Predigten zu schlechten Gedichten und zu zusammenhangslosen Wörterreihen, die man schon im geschriebenen Zustand nicht nachvollziehen kann. Was soll erst die arme Hörerschaft damit anfangen?
Von der poetischen Nebenwirkung zum assoziativen Risiko: Im Denken in und Arbeiten mit einzelnen „Moves“ liegt eine große Freiheit, die unsere Predigten auch ungewöhnliche Wendungen nehmen ließen. Hier und heute müssen wir uns wohl eingestehen, dass wir die Freiheit der Moves missbraucht haben. Viel zu viele dramaturgische Predigten haben in den letzten Jahren den Predigttext nur noch als mögliche Startbahn für eigene Beispielgeschichten genutzt, wobei die Verbindung zwischen den Moves und dem Predigttext oftmals höchstens assoziativ war. Doch auch zum entgegengesetzten Extrem fühlen sich viele durch die dramaturgische Homiletik eingeladen: Das langweilige Nacherzählen einer gerade gehörten Bibelgeschichte hat sich unter dramaturgischen Bedingungen nun wieder in die Predigtpraxis eingeschlichen. Wer keine guten Ideen für Moves aus dem Hier und Heute hat, schreibt Moves aus der Perspektive einer biblischen Figur.
Leider bleibt es oft bei diesem einzigen Move. Die Predigt als biblisches „l’art pour l’art“. Der homiletische Mehrwert will sich nicht erschließen.

Meiner Meinung nach, liebe Trauergemeinde, wohnte der dramaturgischen Homiletik von Anfang an ein Geburtsfehler inne, den wir viel zu spät bemerkt haben. Ihre rhetorische Dimension war unterentwickelt. So sinnvoll die Unterscheidung zwischen Reden-Über und Reden-In sein mag: Mit Blick auf die Redeabsicht handelt es sich hier um falsche Alternativen. Predigt sollte in erster Linie weder Reden-Über noch Reden-In, sondern vor allen Dingen Reden-An bzw. Reden-Zu sein. Predigt ist Zurede und Ansprache. Entscheidend ist nicht, ob ein Leser sie schön findet. Entscheidend ist, ob ein Zuhörer sie im wahrsten Sinne des Wortes begreifen kann. Die dramaturgische Homiletik hat leider ihren Teil dazu beigetragen, dass viele Predigten heute eher Essays, Gedichten und Aufsätzen gleichen. Predigt aber ist direkte Rede. Am Ende aber gilt das gesprochene Wort.
Lasst uns nun aber nicht verzagen, liebe Trauergemeinde! Wir Christen glauben schließlich an die Auferstehung der Toten. Dieser Glaube schließt auch totgesagte homiletische Paradigmen nicht aus. Vielleicht steht auch sie, die dramaturgische Homiletik, eines Tages wieder auf. Lasst uns dann nicht den gleichen Fehler wieder begehen und aus einem besonders schmackhaften Nahrungsergänzungsmittel der Predigtkunst ein Grundnahrungsmittel machen. Lasst sie uns dann wohldosiert einsetzen, die dramaturgische Homiletik. Vielleicht wird dann aus dem derzeitigen Gleichschritt wieder ein Wechselschritt zur Kanzel.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Pastoralblätter im Abo

Gottesdienste komplett und fundiert vorbereiten.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen