Aller Anfang ist schwer? Nicht mit dem, der der Anfang ist und das Ende, das A und das O. Psalm 34, dem die Jahreslosung entstammt, ist ein akrostichischer Psalm, also dem hebräischen Alphabet nach geordnet. Deshalb diese kleine Alphabetisierung der Suche nach Frieden, ein Versuch, durchzubuchstabieren, wozu uns die Losung anhält. Allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sondern eben als Suchbewegung.
Bares für Rares, alte Bücher und neue Partner, Briefmarken, Pilze, Panini: Alle suchen etwas. Die einen das Glück, die andern nach Sinn, oder doch eher alle nach beidem. Die Bundeswehr sucht Rekruten, die Friedensbewegung Ostermarschierer. Aber wo sucht man den Frieden, wo hält er sich nur versteckt? Als ob es ihn einfach so gäbe, irgendwo, als ob er nicht erst entstünde, schon geschehe, hier und da, immer wieder, wo zwei oder drei versammelt sind, Streithähne sich versöhnen und ganze Völker und Staaten sich verständigen.
Christen sind friedfertige Leute, hört und denkt man gemeinhin. Aber wer, der auf der Suche nach Frieden ist, kann schon friedfertig sein? Oder liegt genau darin ein Problem, dass Christen allzu oft und allzu schnell friedfertig sind?
Doppelpunkt würde ich keinen setzen zwischen den beiden Teilen von Ps 34,15. Das Meiden des Bösen und Tun des Gutes (V 15a) gehört wesentlich zur Friedens-Bewegung. Aber auch wenn unsere Jahreslosung unbestreitbar das aktive Element betont, beinhaltet Frieden für mich doch sowohl Tun wie auch Lassen, eine ethische und eine ästhetische Dimension. Die Suche und Jagd nach Frieden wäre bald atemlos, wenn sie sich nicht auch finden ließe und verweilen und schauen dürfte (Ps 34,6).
Elementarisierung ist eine friedenspädagogische Herausforderung. Auch und gerade die Suche braucht Vorstellungen, Vor-Bilder, Spielanleitungen. Die Kinderfrage aus der bekannten russischen Anekdote: „Väterchen, wie spielt man Frieden?“ drückt auch eine Verlegenheit von Erwachsenen aus. Sie könnte auch dem gestellt werden, der hier seine Kinder zum Zuhören anhält (Ps 35,12). Ohne die Fähigkeit, Frieden auch zu spielen, wird aber die Jagd nach ihm bald zum bitteren Ernst.
Frieden ist auch ein Forschungsthema, Gegenstand wissenschaftlicher Suchbewegung. Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg ist hier eine gute Adresse. Gegenüber einem statischen und primär außen- und sicherheitspolitisch definierten Verständnis bestimmt die FEST Frieden als einen geschichtlichen Prozess der Minimierung von Not, der Eindämmung von Gewalt und der Verminderung von Unfreiheit.
In Gottesdienst und Gesangbuch hat Psalm 34 einen festen liturgischen Platz. Sein weisheitlich geprägter Mittelteil aber, und in ihm Vers 15, gehören nicht zur Auswahl EG 718. Trotz etlicher Entwürfe weisheitlicher Theologie seit Gerhard von Rad tun wir uns offenbar schwer mit diesem biblischen Traditionsstrang. Dabei wäre hier einiges an Lebensnähe und Aufmerksamkeit für den Alltag zu lernen. Denn wer ist der, der keine „Lust hat am Leben, Tage liebt, Gutes zu sehn?“ (Ps 34,13 – Übersetzung nach Buber/Rosenzweig)
Homiletisch ist der Kasus der Neujahrspredigt zu beachten, die sich vielfach der Jahreslosung annehmen wird. Eine Schwellensituation, in der auch der Wunsch nach einem friedlichen neuen Jahr laut wird. „Mit Gott erwarten, was kommen mag“, betitelt der Kasualtheologe Kristian Fechtner eine Präparationsübung für das neue Jahr (als Download verfügbar unter der Seite des Zentrums Verkündigung der EKHN). Sie orientiert sich an Fritz Riemanns vier grundlegenden Persönlichkeitstypen und ihren Ambivalenzen. Diese Übung ließe sich auch auf das Thema der Suche und Sehnsucht nach Frieden übertragen: Wo braucht es hier Kontinuität, wo Veränderung? Wo zielt die Friedenssuche nach Freiheit, wo nach Geborgenheit? Und welche Persönlichkeitsstruktur ist jeweils wohin geneigt und hat gerade dort ihre Stärken und Anfälligkeiten? Viele politische Konfliktlagen unserer Tage ließen sich in dieses Geviert einzeichnen!
Illusionen tummeln sich gerne um den Jahresanfang herum, als gute Vorsätze getarnt. Wo liegt der Unterschied zwischen einer Illusion und einer Friedensvision? Letztere hat Anhalt an der Wirklichkeit. Sie ist realitätsgrundiert und nimmt als Ausgangspunkt ihrer Suche den harten Boden der Tatsachen, während die Illusion ihre Luftschlösser baut.
Jagd nach Frieden? Das Bild irritiert. Jagd ist aufs Töten aus, will das Gesuchte zur Strecke bringen. Aber die hebräische Wurzel meint auch „eilig und eifrig folgen“, „hinter etwas oder jemandem her sein“. Es könnte also auch eine Liebe sein, die seiner/ihrer Angebetenen nachsteigt, mit zärtlicher Beharrlichkeit, mit eifriger Aufmerksamkeit, Geduld und Verlangen. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, hier in Ps 23,6 begegnet dasselbe Wort. Wir sind also selbst im Visier eines großen Verlangens. Und deshalb fähig, nach Frieden zu „jagen“, sogar im Angesicht unserer Feinde.
Kinder sind wir nicht mehr und wenig empfänglich für patriarchale Belehrung oder altväterlichen Rat. Wenn wir uns also hier (Ps 34,12) angesprochen fühlen, dann im Horizont und in der Ehrfurcht vor jenem Vater im Himmel, dessen Söhne und Töchter wir sind und also Geschwister untereinander.
Lob und Erlösung sind das A und O in Psalm 34, jedenfalls sein Anfang und Ende (V 1 und 23). Beide bilden auch eine gute Fassung für die Suche nach Frieden. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus, mit dem man lange und ausdauernd unterwegs sein kann: mit der Erlösung als Anfang und dem Loben Gottes als Ausgang aller Wege.
Vier Modelle biblischer Friedensvorstellungen unterscheidet Manfred Oeming, Ordinarius für alttestamentliche Theologie und Ethik: das politische, das weisheitliche, das kultische und das eschatologische Modell. Frieden in dieser oder der kommenden Welt? Frieden durch das Handeln politischer Akteure, der Mächtigen vor allem, oder doch nur durch Gott allein? Frieden durch faires Verhalten im Alltag oder durch stellvertretende Sühne im religiösen Ritual? Frieden in kosmischen Dimensionen oder im überschaubaren Bereich von Familie und Nachbarschaft? Falsch wäre, Alternativen zu konstruieren. Der Schalom der Bibel umfasst alle Dimensionen und Polaritäten.
Nachrüstungsdebatten der späten 70er und 80er Jahre haben eine Generation geburtenstarker Jahrgänge, zu der auch ich mich zähle, politisiert und auch zum Studium der Theologie motiviert. Friedensbewegte Zeiten gab es seit der Diskussion um die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren immer wieder. Schwerter wurden zu Pflugscharen geschmiedet, nicht nur in symbolischen Aktionen, auch in Form einer Friedensdividende. Wie kommt es, dass das nicht nur gefühlt lange her ist?
„Ohne Rüstung leben“ ist heute scheinbar keine Option mehr. Utopische Energien von einst haben sich erschöpft. Klare Fronten eines „Kalten Krieges“ existieren nicht mehr. Asymmetrische Kriege, oft befeuert im Namen der Religion, haben auch die Friedensbewegten verunsichert. Abrüstungsverträge wie überhaupt internationale Abkommen und Institutionen scheinen zur Disposition gestellt. Wie sieht ein Pazifismus für das 21. Jahrhundert aus? Und welche Rolle sollten die Liebhaber des Friedens in den Kirchen dabei spielen? Fragen zu stellen heißt nicht, sie zu beantworten. Stellen aber muss man sie, will man den Frieden wirklich suchen.
Privat oder politisch, welcher Friede ist hier in Ps 34,15 im Blick? Ist dieser Halbvers ein weiser Rat, im persönlichen Umfeld „alles zum Besten zu kehren“? Oder ruft er auf zu gesellschaftlichem Engagement und zum Kampf gegen fremdenfeindliche Hetze und populistische Parolen? Darüber lässt sich streiten, friedlich natürlich. Aber warum das eine tun und das andere lassen?
Quietismus kann keine Lösung sein. Zu deutlich hält uns die Losung dazu an, selber aktiv zu werden. Und doch braucht auch eine Basis, wer zur Suche aufbricht, muss immer wieder zur Quelle zurück. „Kampf und Kontemplation“, sagt man dazu in Taizé. Dorothee Sölle sprach von „Mystik und Widerstand“. Auch die Suche nach Frieden bewegt sich zwischen Hin- und Rückreise (Sölle).
Ruhe in Frieden, ruft man Verstorbenen nach (warum nur ihnen?) und geht hoffnungsvoll davon aus, dass sie „ihren Frieden gefunden“ haben. Wikipedia weiß für die „deutsche Standardsprache“ drei Hauptbedeutungen. Frieden bezeichne einmal einen „Zustand des inner- oder zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit“, zum anderen einen „Zustand der Eintracht und Ruhe“, außerdem, im religiösen Sinn, „die Geborgenheit in Gott“. So viel Ruhe! Beunruhigend geradezu.
Suchmaschinen werden’s nicht richten. Es braucht jenen „menschlichen Faktor“, der so oft den Frieden zum Scheitern verurteilt, um ihn wieder und wieder zu suchen, zu finden, zu pflegen. Auch „copy and paste“ scheint mir kein geeignetes Verfahren, Frieden zu schaffen. Auf die Differenz nämlich kommt es an. Schalom im biblischen Sinne ist kontextbezogen, situationsgerecht, menschen- und fehlerfreundlich. „Der Frieden existiert nicht, Genauer müsste man im Plural sprechen, von den Frieden. Erst deren Summe entspricht dem biblisch-hebräischen Schalom.“ (Ginzel, S. 136) Deshalb beginnt (und endet) die Suche immer aufs Neue.
Timo Honkela, ein finnischer Computerwissenschaftler und Spezialist für Künstliche Intelligenz (KI), will der Welt ein Vermächtnis hinterlassen. Nachdem bei ihm ein aggressiver Tumor diagnostiziert wurde, möchte er mit Hilfe von KI eine „Peace Machine“ konstruieren, die der Menschheit zum Weltfrieden verhelfen soll. Wahrlich ein ambitioniertes Projekt, seinen Seelenfrieden zu finden.
Ursprung der Jahreslosungen ist der historische Kontext der Bekennenden Kirche. Otto Riethmüller hat sie „ins Leben gerufen“, konkret in die Anfangsjahre der Nazibarbarei. Aus dieser Zeit stammen auch einige Gesangbuchdichtungen Riethmüllers, unter anderem die Verdeutschung eines mittelalterlichen Hymnus (EG 223): „Der du am Kreuz das Heil vollbracht / des Himmels Tür uns aufgemacht: / gib deiner Schar im Kampf und Krieg / Mut, Kraft und Hilf aus deinem Sieg“ (Vers 5). So kämpferisch muss gelegentlich die Suche, das Singen und Ringen um Frieden sein.
Vademecum für ein Jahr also ist dieses Psalmwort. Kurz und bündig formuliert, handlich wie im Taschenformat. Zur Hand, zu Herzen nehmen sollten wir’s in der Tat immer wieder. Unser wahres Vademecum ist ja kein Vers oder Buch, sondern das Wort. Das A und das O, von Anfang bis Ende, dessen Friede höher ist als alle Vernunft und unsere Herzen und Sinne bewahrt.
Weisheit braucht wenig Worte. Sie sagt zwar wenig, aber Gehaltvolles. Ein weisheitlich geprägtes Psalmwort als Jahreslosung: Warum sollte die Predigt sich nicht davon anregen lassen in Sprache und Stil, das ganze Jahr hindurch? Nicht um Vereinfachung müsste es aber gehen, sondern um Verdichtung. Erfahrungsgesättigte Prägnanz wäre angezeigt, nicht der schnellfeuernde Tweet.
Xenophilie ist keine Krankheit, sondern ein christlicher Habitus. Die vielbeschworene und dann oft diffamierte „Willkommenskultur“ ist kein Hobby naiver Gutmenschen, sondern Auftrag Gottes an uns. Gastfrei (wörtlich „fremdenfreundlich“) zu sein vergesst nicht, empfiehlt uns der Hebräerbrief (Hebr 13,2). Ohne die Liebe, wenigstens die Offenheit für Fremdes wird der Friede nicht blühen. Er gedeiht dort, „wo wir alles teilen“ (EG 170), auch unsere Fremdheiten.
Yes we can, war einmal eine Devise. Ja, wir schaffen das, hieß das auf Deutsch. Es war gutes Deutsch, das da gesprochen wurde. Inzwischen scheint es, sind wir dabei, dieses Deutsch mehr und mehr zu verlernen. Dem Frieden tut das nicht gut. Wir können tun, was wir können. Und das ist weit mehr, als viele meinen.
Zuversicht zum guten Schluss. Alle elf Sekunden verliebt sich angeblich ein Single über … Ein Wunder der Technik und ihrer Algorithmen, kaum zu glauben! Unsere Hoffnung bleibt: Ständig verlieben sich Menschen aufs Neue in Gottes Schalom und können’s nicht lassen und steigen ihm hinterher. Und sind ins Gelingen verliebt, nicht ins Scheitern.
Literatur
Günther Bernd Ginzel, „… Suche den Frieden und jage ihm nach!“ Zum Schalom in der Hebräischen Bibel, in: Heinrich Albertz u. a. (hg. von Volkmar Deile), Zumutungen des Friedens. Kurt Scharf zum 80. Geburtstag, Reinbek 1982, S. 136–150; Manfred Oeming, „Suche Frieden und jage ihm nach!“ (Ps 34,15). Der umstrittene Weg zum Frieden im Alten Testament, in: Bibel und Kirche 61/2006, S. 126–129; Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1985 (3. Aufl.)
Websites
www.fest-heidelberg.de/frieden-und-nachhaltige-entwicklung; www.helsinki.fi/en/news/education/a-learning-machine-as-a-messenger-of-peace; www.zentrum-verkuendigung.de/nc/material/downloads