Eine Legende aus Nordchina erzählt: Es lebte im Norden des Landes ein Mann. Er wohnte in einem Tal, am Fuß zweier großer Berge, Taihung und Wangwu. Die Berge versperrten den Weg nach Süden und sie versperrten die Sicht auf die Sonne.
Entschlossen machte sich der Alte mit seinen Söhnen daran, mit Hacke und Schaufel die Berge abzutragen.
Die Nachbarn lachten ihn aus. „Du wirst nie dein Ziel erreichen!“
„Wenn ich sterbe“, sagte er, „werden meine Söhne weitermachen. Wenn sie sterben, werden meine Enkel weitermachen. Die Berge sind zwar hoch, aber sie wachsen nicht weiter. Wir haben Geduld, ein Ziel, und unsere Kraft kann wachsen. Es ist besser, etwas zu tun, als über den ewigen Schatten zu klagen.“
Und so grub er mit seinen Söhnen Wochen, Monate, Jahre. Das rührte Gott. Er schickte zwei seiner Engel auf die Erde, die trugen die Berge auf ihrem Rücken davon.
Eine schöne Geschichte. Im guten Sinn der erzählten Legende hieße alt werden: eine Aufgabe, ein Ziel, Geduld und Kraft haben, nicht alleine sein und deshalb gelassen meinen kleinen Anteil tun an einer Geschichte, die längst vor mir begonnen hat und mit mir nicht endet.
Ich begegne mehr und mehr Menschen, denen – nicht erst im Alter, aber dort dann besonders deutlich – eine Lebensaufgabe fehlt. Da versperren nicht nur ein oder zwei Berge den Blick auf die Sonne, da sind nur noch Berge, ringsum. Da gibt es nicht die zwei Söhne, die mit Hand anlegen. Immer mehr Menschen sind allein. Und nicht einmal die lästernden und spottenden Nachbarn finden sich. Das Leben ist ohne Belang. Und belanglos ist mein Tod. Haben sich wenigstens Gottes Engel über die Zeit gerettet?
Negative Schlagzeilen aus Pflegeheimen und Demenzstationen legen ein Ausrufezeichen über meine Überschrift dieses Editorials nahe. „Aufgabe“, als ob das Leben im Alter nicht nur ab-, sondern aufgegeben werde. Geschuldet dem „Pflegenotstand“, der persönlichen Hilflosigkeit aller Betroffenen, einer brutalen Gleichgültigkeit der „noch nicht Betroffenen“ … Senioren werden wohl mehr und mehr akzeptiert, auch wieder eingebunden in betriebliche oder Verwaltungs-Abläufe, aber eben meist nur, solange sie „funktionieren“.
Ich habe unser Redaktionsbeiratsmitglied Tobias Götting
gebeten, zusätzlich zu meinen „Buchtipps“ einige solche zusammenzustellen, die das Problem der Demenzerkrankung thematisieren.
Ebenfalls habe ich unter Spiritualität und Amt Gedanken zum Thema „Bibel und Alter“, sowie anschließend eine Meditation zu den „Jahreszeiten des Lebens“ eingefügt.
Wollen wir der Problematik nicht nur mit Allgemeinplätzen begegnen, dann ist uns Pfarrerinnen und Pastoren, Prädikanten und Vikarinnen die Bibel in die Hand gegeben. Wir lernen mit Abraham loszulassen und zu vertrauen und mit Simeon rückblickend danken, mit Nikodemus fragen und begleiten Saul in seiner Depression.
Wir werden im Jahr 2020 in der Rubrik „Der besondere Gottesdienst“ biblischen Paaren aus je unterschiedlichen Generationen begegnen – vielleicht auch ein Schlüssel zum Verständnis heutiger Konflikte und ihrer Überwindung.
Gerhard Engelsberger