Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Römer 8,18)
Ihr Blick ist ins Nichts gerichtet. Teilnahmslos sitzt sie auf einer Bank. Was um sie her geschieht, nimmt sie kaum wahr. In Gedanken ist sie in einer anderen Welt. In einer vergangenen Welt. Die letzten Wochen hatte sie jede freie Minute hier verbracht. Hier im Krankenhaus bei ihrem Mann. Bis zum Schluss. Bis heute.
Die letzten Monate waren von Verzweiflung und Ohnmacht geprägt. Warum er? Warum konnte ihm keiner helfen? Diagnose: unheilbar. Dann heute Morgen. In Gedanken sah sie ihn vor sich. Friedlich. Mit einem Lächeln auf den Lippen. So hatte sie ihn das letzte Mal gesehen.
Auch die letzten Wochen über war er ruhig geblieben. In ihr dagegen hatte sich mit jedem Tag mehr Wut angestaut. Manchmal hatte sich diese Wut in Tränenbächen Bahn gebrochen. Manchmal hätte sie ihr Leid am liebsten laut in die Welt geschrien. Er aber hatte alles mit Fassung getragen.
Sie wusste, dass ihm sein Glaube wichtig war. Verstanden hatte sie das aber nie. Selbst als die Diagnose kam, hielt er daran fest. „Wo ist er jetzt, dein Gott?“, hatte sie ihn einmal wütend gefragt.
Leid gehört zu dieser Welt. Wir können nicht die Augen davor verschließen. Ein Blick in die Nachrichten genügt. Manches Leid ist weit weg. Es schaut uns hinter einer Fernsehscheibe entgegen, und wenn wir den richtigen Knopf drücken, verschwindet es wieder. Aber es bleibt doch Realität. Manches Leid begegnet uns in unserer unmittelbaren Umgebung. Wir können versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber es bleibt doch Realität. Manches Leid trifft uns vielleicht ganz persönlich. Den einen mehr, den anderen weniger hart. Leid ist Realität.
Wir neigen dazu, nach Erklärungen zu suchen. Wir wühlen in der Vergangenheit. Was habe ich falsch gemacht? Warum ausgerechnet ich? Warum meine Familie? Es muss doch einen Grund für Leid, Schmerz und Elend geben. Wir konzentrieren uns auf das Jetzt. Gibt es noch eine Chance? Und sei es nur die kleinste. Irgendetwas?
Leid ist Realität. Der eine kann besser damit umgehen, der andere weniger. Der eine findet einen Weg, den Schmerz zu bewältigen. Den anderen frisst er auf.
Auch Paulus weiß um die Realität von Leid. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom schildert er, was christliche Existenz bedeutet. Dabei verschweigt er nicht, dass Christsein Leid einschließt. Der christliche Glaube schützt nicht davor. Er ist kein Schild, an dem Leid abprallt.
Und trotzdem: Der christliche Glaube verändert etwas. Paulus fasst es in seinem Römerbrief in folgende Worte: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm 8,18). Der christliche Glaube verändert etwas. Er stellt Leid in ein neues Licht. Er denkt nicht nur von der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch von der Zukunft her: In der zukünftigen Herrlichkeit, bei Gott ist Leid überwunden. Darauf richtet sich die christliche Hoffnung. Sie ist nicht einfach ein naives Augenverschließen vor der Wirklichkeit. Sie hat vielmehr einen Grund: In Jesus Christus ist Leid überwunden. Er hat es für uns am Kreuz besiegt, und wer daran glaubt, hat Anteil an diesem Sieg. Der christliche Glaube vertraut darauf, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, sondern dass er der Übergang hin zu etwas Neuem ist. Hin zu Gottes Herrlichkeit, in der Leid, Schmerz und Elend keine Macht über uns haben werden.
Leid gehört zu dieser Welt. Der christliche Glaube befreit nicht davon. Aber er schenkt Freiheit in Gottes zukünftiger Herrlichkeit, von der wir schon im Hier und Jetzt etwas spüren können.
„Wo ist er jetzt, dein Gott?“, hatte sie ihn wütend gefragt. Er hatte sie ruhig angesehen, seine Bibel in die Hand genommen, darin geblättert, das Lesezeichen zwischen zwei Seiten gelegt und die Bibel wieder beiseitegetan. „Lies, wenn du magst“. Er hatte sie angelächelt. Es war dasselbe Lächeln wie heute Morgen.