Paare in der Bibel: Kain und Abel. Mensch Kain!

1. Mose 4, 1-16

Kain erschlug Abel.
Mose erschlug den Ägypter.
Amalek schlug Israel.
Israel schlug die Könige von Arad, Sihon, Og und Midian.
Israel schlug die Philister.
Assyrien eroberte Israel.
Assyrien eroberte Ägypten.
Babylonien eroberte Assyrien.
Babylonien eroberte Israel.
Persien eroberte Babylonien.
Griechenland eroberte Persien.
Rom eroberte Griechenland.
Rom beendete die jüdische Geschichte.
Die Hunnen schlugen
Die Goten schlugen
Die Franken schlugen
Die Karolinger, Salier, Staufer schlugen
Die Deutschen schlugen
Die Schweden schlugen
Die Donaumonarchie schlug
Das Königreich schlug
Das Kaiserreich schlug
England, Spanien, Portugal schlugen
Russland, Polen, Japan schlugen
Das nationalsozialistische Deutschland vernichtete
Die kommunistische Sowjetunion vernichtete
... und morgen die ganze Welt.

Du gibst jetzt Gott die Schuld?
Hat er nicht selbst das eine Opfer angenommen, das
andere verweigert?
Mach immer die anderen zum Sündenbock, mach Gott selbst zum Sündenbock.
Du tust immer so, als ob du trennen könntest zwischen Kain und Abel, zwischen Adam und Eva, zwischen Gott und Mensch.
Du trennst und gibst dem anderen die Schuld.
Du trennst und gibst Gott die Schuld.
Das eine ist so billig wie das andere.

Wir billigen das:
Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.
Das Meer ersäufte die Ägypter – der Name des Herrn sei gelobt.
Israel schlug die Amalekiter – der Name des Herrn sei gelobt.
Die Gottlosen sollen zerstreut werden wie Wind – der Name des Herrn sei gelobt.
Die Wirbelstürme, die Erdbeben, die Überschwemmungen verschonten mein Haus, meine Stadt, mein Land – der Name des Herrn sei gelobt.
Wir nehmen uns aus all dem heraus und fragen: Wie kann Gott das zulassen?
War das deine Absicht, Kain, der Willkür Gottes das Handwerk zu legen?
Mensch Kain, wolltest du eigentlich gar nicht deinen Bruder Abel erschlagen, sondern Gott selbst?
Mensch Kain, wo ist dein Bruder Abel. Du hast dich von ihm getrennt. Aber du bist ihn nicht wirklich los. Er ist Kain genauso, wie du auch Abel bist.

Der Mensch jenseits von Eden findet sich nicht nur als Mann und Frau. Er findet sich dort als Bruder, als Schwester. Als Mitmensch. Kain ist kein „Ohne-Mensch“. Der jenseits von Eden geborene Mensch ist kein Ohne-Mensch, ist immer hineingeboren in eine Welt, bewohnt von Mitmenschen, Schwester und Brüdern.
Das ist eine weitere, großartige Erfahrung des Menschen. Ich bin nicht nur Mann oder Frau, ich bin auch Schwester und Bruder, ich und du, Feind und Freund.

Der Name Abels wird nicht erklärt. Er ist da. Einfach so. Mehr nicht. Er ist der Statist, die Folie, der Hintergrund, auf dem sich Kain erst abzeichnet. Er dient nur dazu, Kain vorzustellen. Mehr nicht. Er teilt das Schicksal vieler, die nur dazu da sind, andere ins Licht zu stellen oder zu definieren. Abel ist Mittel zum Zweck. Seine Bedeutung entspricht auch der tatsächli­chen Bedeutung in der Geschichte: Wind, Hauch, Nichtigkeit.
Kain braucht immer den anderen, damit er unterschieden werden kann. Um „etwas“ zu sein, brauche ich ein „nichts“, von dem ich mich abhebe. Der Mensch ist „jemand“, und deshalb braucht es einen „niemand“, von dem er sich abhebt. Sonst wäre er nicht, wer er ist.
Ich weiß nicht, ob Ihnen – wie mir – spontan solche „Niemande“ und „Nichtse“ eingefallen sind. Abels, die kommen und gehen. Die nur den Rahmen bilden für meinen, für deinen Auftritt.
Lebt nicht die Politik davon?
Lebt nicht die Werbung davon?

Abel. Nichts. Ein Hauch. Ein Rauch. Ein verschwindender Rauch.
Im Rauch sucht Eli Wiesel in seiner Autobiographie die Schwester, verbrannt in Auschwitz, die Mutter, den Vater. Im Rauch, der keine Spur hinterlässt, nur eine tiefe Klage, dass Schwester und Bruder nur leben wollen, vielleicht auch nur so leben können: auf Kosten des anderen.
Ein Rauch aus den Öfen in Maidanek, Auschwitz, Buchenwald.
Ein Rauch. Ein Hauch. Ein Nebelschwaden ist der Mensch.

Der Mythos von Kain und Abel erzählt vom Bruder, der am Bruder stirbt. Bis heute stirbt einer am Leben des anderen. In Kriegs- und zu Friedenszeiten Brudermord.
Wir sagen Bruder und Schwester. Wir sagen das auch manchmal in unserer Kirche. Hinter diesen Begriffen steht ein hoher Anspruch.
Den Bruder kann ich mir nicht aussuchen.
Die Schwester kann ich mir nicht aussuchen.
In diese Beziehung bin ich hineingeboren.

Mensch Kain, ich denke an die Tausende Kreuze und an das eine.
Mensch Kain, wie hältst du es mit Jesus Christus?
War das so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass nun Gott – der Name des Herrn sei gelobt – selbst bluten muss?
Hat dir das gutgetan, oder läufst du immer unstet und flüchtig vor deinem Gott, deinem Bruder davon?
Wie kann ich Evangelium weitergeben mit diesem alten Mythos?
Kreuzige ihn? Oder: Der Name des Herrn sei gelobt?

Ich würde gerne trösten.
Mensch, Kain!
Ich suche nach dem Evangelium, der guten Nachricht in deiner Geschichte.
Ich will nicht sitzenbleiben auf meiner Schuld.
Ich will auch dich nicht sitzen lassen auf deiner Schuld.
Ich wollte, dieser ganze Kreislauf von Willkür und Gewalt, von Schuld und Ver-Nichtung wäre nicht nur unterbrochen, so wie ein Mensch den Atem kurz anhält, um dann umso lauter zu schreien.
Ich wollte, ein Ende wäre in Sicht.
Oder ein Anfang, wie immer du willst.

Mensch Kain, ich möchte Evangelium predigen anhand deiner Geschichte. Ohne nun wieder dich und deine Geschichte zu vergewaltigen.
Mensch Kain, was kann ich predigen?

„Adam
jetzt
endlich wirst du der Fesseln ledig
deine Füße stehen auf weitem Raum
der Engel vor dem Paradies hat sich zurückgezogen
deine Kinder opfern auf einem gemeinsamen Altar
Eva spielt mit ihren Enkeln am Nest der Natter

Menschen gehen ihre Wege ohne Kainsmal
niemand wird verfolgt wegen der Sünde der Väter
Mauern fallen
keiner bewacht Brücken
ein jeder gibt mit Sommerhänden
Adam,
steh auf“
(Gerhard Engelsberger, Wunderwege. Sinngeschichten und Impulstexte, Gütersloh 2015, S. 15)

Ich gehöre zu dir, Kain.
Mensch Kain, wir sind vom gleichen Fleisch und Blut.
Ich gehöre zu dir, Kain, als dein Schatten und als deine Freude.
Mensch Kain, es hat keinen Sinn, dass jeder von uns allein geht.
Und wo zwei, die auseinander sind, die sich feind sind, wo zwei in seinem Namen eins werden, da sagt er, er sei mitten unter ihnen.

Legen wir unsere Päckchen zusammen, Kain.
Das „Auseinander“ war ja auch nicht mehr als ein Spiel.

„Abel steh auf
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst, Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich
vor der Antwort
die Luft in meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte

Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen

Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein

Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein“
(Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt 1987, S. 364f)

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