Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?
Matthäus 16,26
Bedenkt man, dass diese Worte ursprünglich zu einer Gruppe von erwerbslosen, mit einem Wanderprediger umherziehenden ehemaligen Arbeitern, Fischern usw. gesprochen wurden, stellen sich zwangsläufig ein paar Fragen:
Steht bei solchen Leuten der Gewinn der ganzen Welt auf der Tagesordnung? Was dachten die hungrigen Frauen, die mit dabei und täglich darauf aus waren, mit ihren Kindern über die Runden zu kommen? Hat Jesus all denen hier nur etwas vorphantasiert?
Eine Lösung hierfür mag darin liegen, das Leben im damaligen Römischen Reich und in den frühen christlichen Gemeinden in den Blick zu nehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung waren kleine Leute, die Armut und die Willkür der Macht aus eigener Erfahrung nur allzu gut kannten. In der neuen Lebensgemeinschaft, auch wenn sie aus heutiger Sicht materiell eher bescheiden zu denken ist, empfand man das alltägliche Dasein trotz allem hundertmal besser als zuvor. Gleichheit und bedingungslose Liebespraxis untereinander bestimmten ihre neue Situation. Und ihre Hoffnung galt der Wiederkehr des Sohnes Gottes, der von den Mächtigen gekreuzigt, danach aber von Gott auferweckt und ins Recht gesetzt wurde – die Hoffnung also auf einen neuen Weltherrscher.
Wie sieht es heute aus? Gewinn (kérdos) und Tauschmittel (antállagma; V. 26b) sind Worte aus der Kaufmannssprache, aus der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, modern ausgedrückt. In unseren Tagen wird die Welt vornehmlich als etwas angesehen, aus dem sich Gewinn ziehen lässt – als Beispiel seien hier nur mal die Rohstoffe genannt. Allein dazu ist sie offenbar gemacht. Wer sie entsprechend behandelt, wird mit Erfolg belohnt, gehört zu den „Winnern“. Der Businessman, der die Welt unter dem Gesichtspunkt des „kérdos“ behandelt, betreibt den Umbau dieser Welt zum globalen Markt mit allen Mitteln. Was aber bringt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt globalisiert? Wachstum, Wohlstand, Einfluss, Macht – das wären die gängigen Antworten, nimmt man den Gewinnerstandpunkt ein.
Doch die von Jesus begründete neue Lebensgemeinschaft, die sich in seinen Gemeinden, in seiner Kirche abbilden sollte, betrachtet zum Glück die Welt aus der Perspektive der Verlierer, der „Loser“, der Leidenden. Sie erinnert daran, dass da, wo gesiegt wird, auch unterworfen wird; dass von dort, wohin heute Waffen exportiert werden, morgen Flüchtlingsströme aus Kriegen resultieren; dass dort, wo heute seltene Erden abgebaut werden, morgen Korruption und Hunger erwachsen. Daher sollte die neue Lebensgemeinschaft in der Nachfolge Jesu stets fragen: Wer sind die Verlierer bei der globalen Weltaneignung? Die Antworten sind schnell gefunden – auch Jesus wurde schließlich Opfer von Machtinteressen, Egoismen und sogenannten Sachzwängen.
Dennoch war er der Meinung, dass die „Winner“ sich selbst beschädigen, sich kaputtmachen. Das erinnert mich an Christa Wolfs „Kassandra“, die sagt: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird eure Stadt bestehen.“ Sie fügt hinzu: „Ich kenne keine Sieger, die aufhören konnten zu siegen.“ Und dann, mit verzweifelter Hoffnung: „Ich kenne die menschliche Natur nicht genug. Vielleicht gibt es einmal Menschen, die ihre Siege in Leben verwandeln.“
Dachte Jesus auch so? Ein „Ja“ mitten im „Nein“, einen Gewinn mitten in der Freiheit von der Gewinnmaximierung, eine unbeschwerte Lebensmöglichkeit, die den Zwängen der Sieger entkommen ist? Damit hatte er sogar Hoffnung für die, die den Gewinn zu ihrem Götzen gemacht hatten. Und seine Kirche erzählt hoffentlich mit störrischer Geduld seine Geschichten weiter, die nicht von Gewinnern, sondern von Gerechtigkeit handeln und von einer Welt, in der alle Platz und Lebensrecht haben, weil sie kein Gegenstand des Besitzes ist.