Gregor durchschreitet das Kirchenportal, in dem Gotteshaus von Rerik wird er den Fischer Knudsen treffen, dem letzten verbliebenen Kommunisten in dem Küstendorf an der Ostsee. Sein Auftrag ist es, eine Fünfergruppe zusammenzustellen, um effektiv gegen die Nationalsozialisten operieren zu können. So zumindest stellt man es sich in der Parteizentrale vor. Gregor hat sich innerlich längst von den Kommunisten distanziert. 1933, als sie Widerstand hätten leisten sollen, haben sie schweigend zugesehen, wie das Gewerkschaftshaus geschlossen wurde. So hat es der Autor Alfred Andersch erlebt, als Jugendlicher hat er für den Kommunismus geglüht, dann kam er in das gerade gegründete Konzentrationslager Dachau – als er entlassen wurde, war er ein anderer geworden. Das was er erlebt hatte und was er später aus dem Lager erfuhr, hat zur inneren Emigration geführt. Das war seine Flucht, es war eine Flucht in die Literatur, er tauchte tief ein. In dem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ begegnen wir ihm und Menschen aus seinem Leben, fiktive Personen, die aus seiner Biografie stammen könnten. Der Oktober 1937 führt sie in dem kleinen Ort Rerik zusammen, für einen Moment werden sie zur Schicksalsgemeinschaft, ein einziger Tag entscheidet über ihre Zukunft, und eine Begegnung, die alle fünf verändert.
1937 denkt Ernst Barlach über die Emigration nach. Aus dem gefeierten Bildhauer und Dramatiker ist längst ein verfemter Künstler geworden. Seine Werke gelten als entartet, die Figuren aus Holz und Stein werden abmontiert, seine Theaterstücke werden nicht mehr gespielt, eine Mappe mit Zeichnungen, die 1935 im Druck erschienen ist, vernichteten die Nationalsozialisten 1936 kurzerhand. Darin war auch eine Kohlezeichnung enthalten, die er 1926 angefertigt hatte: der lesende Klosterschüler. So war das bisweilen, eine Idee war da, eine Zeichnung entstand, im Grunde eine Skizze nur, mit wenigen Strichen auf das Papier geworfen und dann beiseitegelegt. Jahre später wieder in die Hand genommen, vielleicht in einem Bronzemodell ausgearbeitet, um dann für die Statur Holz zusammenzuleimen. Barlach arbeitete nicht am Holzblock, er machte sich das Holz passend und schnitzte dann grob mit dem Stecheisen die Form heraus. Danach ging er an die Feinarbeit. 1930 entstand so auch der lesende Klosterschüler, und nachdem er an unterschiedlichen Stellen aufgestellt worden war, fand er zuletzt seinen Platz in der Gertrudenkirche in Güstrow. Barlach hatte eine starke innere Beziehung zu diesem Gebäude, er suchte einen sakralen Raum für seine Figuren, aber auch für sein Wirken. „Hier ließe sich wohl arbeiten, das wäre wohl eine Situation für einen Bildhauer von meiner Beschaffenheit, meinen Arbeiten fehlt noch der sakrale Raum.“ Es ist kein großer Raum, der „nach dem Himmel lechzt“, sondern „eine wirkliche Stille – und es wäre auch genug, dass man sich sammeln, isolieren könne“. Als nach einigen Widerständen – Barlach entsprach auch nicht der Kunstauffassung der DDR – die Gertrudenkirche 1957 als Barlach-Gedenkstätte eingeweiht wurde, sagte die einstige Lebensgefährtin Marga Böhmer: „Der Innenraum und Barlachs Schöpfungen klingen wundervoll harmonisch zusammen.“ Es ist wie eine Rückkehr in das Mittelalter, in jene Stille, in der der Geist Worte und Taten erwachsen lässt. Der lesende Klosterschüler stand nie in Rerik, auch nicht eine verkleinerte Nachbildung – und um diese kann es sich nur in dem Roman von Andersch handeln –, die Geschichte ist fiktiv, die Personen sind es, und auch der Ort, so real er ist, hat fiktive Züge.
Die Kirche als ein Ort für ein konspiratives Treffen! Noch ist Gregor allein, er geht durch den Raum. Dann, so erzählt Andersch, „wurde er sich der Anwesenheit der Figur bewusst. Sie saß, klein, auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Gregor näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt, zu beiden Seiten der Stirn, die Ohren und die Schläfen verdeckend. Seine Augenbrauen mündeten wie Blätter in den Stamm der geraden Nase, die einen tiefen Schatten auf seine rechte Gesichtshälfte warf. Sein Mund war nicht zu klein und nicht zu groß; er war genau richtig, und ohne Anstrengung geschlossen. Auch die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber sie waren es nicht, der junge Mann schlief nicht, er hatte nur die Angewohnheit, die Augendeckel fast zu schließen, während er las. Die Spalten, die seine sehr großen Augendeckel gerade noch frei ließen, waren geschwungen, zwei großzügige und ernste Kurven, in den Augenwinkeln so unmerklich gekrümmt, dass auch Witz in ihnen nistete. Sein Gesicht war ein fast reines Oval, in ein Kinn ausmündend, das fein, aber nicht schwach, sondern gelassen den Mund trug. Sein Körper unter dem Kittel musste mager sein, mager und zart; er durfte offenbar den jungen Mann beim Lesen nicht stören.“
Soweit Andersch. Für seinen Protagonisten kommt diese Begegnung überraschend, er schreckt auf, er findet sich in ihr selbst wieder. So saßen sie doch auch in der Lenin-Akademie, waren so vertieft und so versunken wie er, waren so alt wie er. Und doch war da ein Unterschied, ein entscheidender Unterschied, und das wird ihm nun bewusst, mit einem Mal und voller Kraft.
1930 entsteht auch der Buchleser, eine sehr ähnliche Arbeit. Bertolt Brecht, der Barlach vor Anfeindungen verteidigt hat, schrieb über dieses Werk: „Da ist der Buchleser. Ein sitzender Mann, vorgebeugt in schweren Händen ein Buch haltend. Er liest neugierig, zuversichtlich, kritisch. Er sucht deutlich Lösungen dringender Probleme im Buch.“ Ganz ähnlich heißt es vom Klosterschüler bei Andersch: „Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese.“ Diese Parallele mag Zufall sein, vielleicht liegt sie aber in der Sache. Beide Figuren bannen die Konzentration, die das Lesen zu einem Zwiegespräch werden lassen, zu einem kritischen Gespräch. Keine Beeinflussung, Indoktrinierung und Manipulierung, keine Bemächtigung des Geistes, im Gegenteil: Es ist der Geist, der frei urteilt und entscheidet.
Ernst Barlach hat sich beim lesenden Klosterschüler an einer spätmittelalterlichen Holzfigur aus dem Kloster Dobbertin orientiert. In einem seiner Briefe schrieb er: „Gotische Holzfiguren sind einfach Offenbarungen für mich.“ Er sucht mittelalterliche Sakralräume, er arbeitet mit mittelalterlichem Material und ist doch zugleich seiner Zeit und auch der unseren so nah. Er steht vor dem lesenden Johannes, der in den Händen das Buch hält, in die Lektüre vertieft ist. Das faltenreiche Gewand gibt der Person Würde, der Blick ist ganz in sich gekehrt. Die Ähnlichkeiten sind auffallend, allerdings auch die Unterschiede. Das Gewand des Klosterschülers ist glatt, er trägt auch keine Tonsur wie sein mittelalterliches Vorbild, vor allem aber halten seine Hände nicht das Buch, sondern sie stützen sich auf.
Andersch hat in seiner frühen Kurzgeschichte „Fräulein Christine“ (1945) bereits zwei Barlach-Figuren beschrieben, Den „Rächer“ und den „Wanderer“, beide sieht er als Figuren des Widerstandes, ihnen gesellt er nun den „Lesenden Klosterschüler“ zu. Er ist die vergeistigte Form des Widerstandes. Steht diese Figur nun für jene innere Emigration, zu der sich Andersch entschieden hat und die auch Barlach gewählt hat? „Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.“ Das unterscheidet dieses Werk von all den anderen Zeichnungen, Drucken, Figuren in Holz und Bronze.
Andersch spielt in „Sansibar oder der letzte Grund“ noch einmal eine Situation seines Lebens durch. „Liest er denn nicht einen seiner heiligen Texte, dachte Gregor. Ist er denn nicht wie ein junger Mönch? Kann man das: ein junger Mönch sein und sich nicht von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte nehmen und trotzdem frei bleiben? Nach den Regeln leben, ohne den Geist zu binden? Gregor richtete sich auf. Er war verwirrt. Er beobachtete den jungen Mann, der weiterlas, als sei nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen, dachte Gregor. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann und dennoch aufstehen und fortgehen. Er blickte mit einer Art von Neid auf die Figur.“
Alfred Andersch ließ sich 1943 von seiner Frau, die in der Naziterminologie als „Halbjüdin“ galt, scheiden und gefährdete damit ihr Leben. Seine Tochter entschuldigte ihn später mit den Worten, dass er „wirklich nicht gewusst“ hat, „was er da anrichet“. In dem Ort Rerik treffen fünf Menschen aufeinander, der Kommunist Gregor, der Fischer Knudsen, der Junge, der Pastor Helander und die Jüdin Judith. Für Gregor ist es entschieden, er wird dafür sorgen, dass Judith sicher nach Schweden kommt. Und auch der Lesende Klosterschüler wird nach Schweden verfrachtet. Die Nationalsozialisten wollen die Figur als entartetes Kunstwerk aus der Kirche holen, der Statue soll widerfahren, was mit so vielen Werken Barlachs geschehen ist. Der Pastor will das indes verhindern und überredet Knudsen, die Figur zu einem befreundeten Kollegen nach Schweden zu bringen. Widerwillig nimmt der Fischer auch die Frau mit an Bord. Unterwegs sprechen Judith und der Junge miteinander. Die Frau meint, dass der Klosterschüler wie einer aussieht, der alle Bücher liest. „Er liest nur die Bibel, sagte der Junge. Deswegen war er doch in der Kirche aufgestellt. In der Kirche, ja, da las er die Bibel. Aber hast du ihn vorhin im Boot gesehen? Ja. Da las er ein ganz anderes Buch, fandest du nicht? Was für eins? Irgendeins, sagte Judith. Er liest alles, was er will. Weil er alles liest, was er will, sollte er eingesperrt werden. Und deswegen muss er jetzt wohin, wo er lesen kann, soviel er will.“
Um diesen einen Moment geht es Andersch, diesen Moment der Freiheit. In den „Kirschen der Freiheit“, die unmittelbar vorher entstanden sind, ist es der Moment der Freiheit, der Augenblick, in dem der Soldat Andersch entscheidet, zu desertieren. Hier aber ist es mehr, es ist die Entscheidung, ein Menschenleben zu retten. Pastor Helander macht auf der Stirn Judiths ein Kreuzzeichen, im Handeln sind sie miteinander verbunden, die Christen, die Kommunisten und die Juden. In diesem Roman hat Alfred Andersch, der zu Glauben und Kirche eine kritische Haltung einnahm, ein Denkmal für seinen ehemaligen Pfarrer geschaffen. In den „Kirschen der Freiheit“ beschreibt er ihn als „eine vertrauenswürdige und machtvolle Persönlichkeit“ mit „lebenssprühenden Augen“. Er war „ganz von protestantischem Trotz. Er wurde der wichtigsten Bedingung seines Bekenntnisses gerecht, die mit dem Charakter, der es verkündet, steht und fällt.“ Am Ende stirbt Helander durch die Kugeln der Gestapo, und da, im letzten Augenblick seines Lebens, sieht er – endlich – an der Kirchenwand die Schrift, auf die er so lange gewartet hat. Die Frage nach dem Leid hat ihn aufgerieben, und doch, so scheint es, hat ihn Gott nicht fallen lassen. Ich bin lebendig, ist sein letzter Gedanke, dann stirbt er.
Helmut Heißenbüttel hat in seiner Besprechung des Romans herausgestellt, dass es nicht um Ideologien und Doktrinen geht, sondern um den Menschen, vor allem um den freien Menschen. Damit trifft er sich mit Barlach, dessen Gedenkstätte in Güstrow genau in dem Jahr eröffnet wurde, in dem der Roman von Andersch erschien. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Barlach entschieden für den Frieden, er leistete offenen Widerstand gegen den Nationalsozialisten und wies auf die Konzentrationslager hin, die überall angelegt wurden. In seinem lesenden Klosterschüler manifestiert sich die Freiheit des Geistes. Brecht betont mit Recht den entschiedenen Humanismus des Künstlers, aber Barlachs Suche nach sakralen Räumen geschieht nicht nur aufgrund ästhetischer Kriterien. Es ist nicht die Freiheit irgendeines Geistes. Wer diese Räume betritt, begegnet dem Geist Gottes. Unter der ersten Zeichnung eines Lesenden hat Barlach die Zeile „Wem Zeit wie Ewigkeit“ gesetzt. Er bezog sich damit auf einen Vers von Jakob Böhme: „Wem Zeit ist wie Ewigkeit, und Ewigkeit ist wie die Zeit, der ist befreit von allem Streit.“ (1616) Dieser Satz ließe sich auch dem Lesenden Klosterschüler zuordnen.
Literatur: Friedhelm Niggemeier, Begegnungen. Alfred Andersch und Ernst Barlach, Norderstedt 2010 – Anita Beloubek-Hammer, Ernst Barlach. Plastische Meisterwerke, Leipzig 1996 – Franz Fühmann, Barlach in Güstrow, Leipzig
6. Aufl. 1993 – Ilse Kleberger, Ernst Barlach. Der Wanderer im Wind, München 1984 – Catherine Krahmer, Barlach, Reinbek 1984 – Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund. Roman, Zürich 1970 – derselbe, Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht, Zürich 1968 – Bernhard Jendricke, Alfred Andersch, Reinbek 3. Aufl. 1993 – Über Alfred Andersch, hrsg. von Gerd Haffmans, Zürich 1974