Der Monatsspruch im Oktober 2020

Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.

Jeremia 29, 7

Zionshunger
Manche Worte haben ihre Zeit. Andere haben abgelaufene Schuhe. Der Monatsspruch für den Oktober hat Zionshunger. Die Worte entstammen einem Brief des Propheten Jeremia aus dem Jahr 597 v. Chr. Er schreibt an mehrere tausend Deportierte, die in Babylon heimwehkrank auf „gepackten Koffern“ sitzen. Seit Monaten hoffen sie auf ein Wunder: ihre baldige Heimkehr nach Jerusalem.
Der Prophet ermuntert seine Landsleute, ihre Zeit nicht zu verwarten, sondern das „Beste“ herauszuholen. Was ihre Heimkehr betrifft, mahnt er zu langem Atem und Geduld. Er rät ihnen, Häuser zu bauen, Gärten zu pflanzen. Und beten sollen sie für die Stadt ihrer Peiniger, die sie verschleppt, entwürdigt und gedemütigt haben.
Derweil essen die Fremden weiter an fremden Tischen von fremden Tellern, trinken aus fremden Bechern, gehen auf fremdem Pflaster einer fremden Stadt.
Ihre Sehnsucht blieb zwischen den Prophetenworten hängen.

Überlebensschätze
In Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ gibt ein junger Mann nach fünf Jahren Zwangsarbeit Auskunft über sein wunderbares Überleben. Was er bewahrt und was ihn bewahrt hat, sind beschriftete Erinnerungen:
„Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich.
Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch.
Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird: Da war ich.“
Solche Überlebensschätze liegen nicht auf der Straße. Die Suche nach ihnen hilft gegen die Furcht, Gott und sich selbst zu verlieren und ein „Fremdling im eigenen Haus“ zu werden.

Augendank
Da bin ich. Mit diesen Worten beginnt der Augendank. Der sucht die große Stadt nach kleinen Schätzen ab und sammelt sie. Die dunkelrote Backsteinfassade der alten Schule spielt Ball mit der Sonne. Der Mai tanzt durch ein tiefgelbes Rapsfeld. Die Kronen der mächtigen Linden leihen dem Hochsommer königliche Schatten, und in einer Fensterzeile macht der Himmel Kopfstand. Von einem Gartenzaun winkt ein verwaister Kinderhandschuh. Die nächste Hauswand wird von wildem Wein zusammengehalten. Die kleinen Blicke lieb zu gewinnen ist eine gute Übung. Aus ihnen wächst gesammelter Trost gegen das Heimweh und geballter Trotz gegen ein Leben auf den Knien.

Seelenbrot
Weißt du noch. Immer wieder legt sich flüchtiges Heimweh auf die größeren Schätze. Es stört und stöbert. Begegnungen, Erzählungen, sogar Umarmungen werden durchkämmt.
Die meisten Menschen hängen mit ihren Erinnerungen an einer Landschaft fest. An einem Gebirge, einem Fluss, einem Stadtviertel, einer Straße. Vielen genügt schon ein Treppenhaus, ein Muster im Kopfsteinpflaster, die untrügliche Farbe des Ginsters oder der Duft von Jasmintee. Dann kommt zutage, „was allen in die Kindheit scheint“. Das erste buchstabierte Wort, der erste Brief an den lieben Gott. Auf allem steht: Weißt du noch. Erinnerung ist Seelenbrot.

Herzhimmel
Manchmal erscheint selbst das Vertrauteste fremd. Auch Gott. Und alle Engel. In einen fremden Himmel hängt niemand Geigen. Zuerst vergeht einem das Singen. Dann das Beten. Zuletzt die Verheißungen. Und am Ende wird der Zion von Füchsen bewohnt.
Deshalb sind die schönsten Schätze die, auf denen stehen wird: Da war ich.
Sie klingen immer noch nach in einem Wiegenlied oder in einem Psalm in den Weidenbäumen. Sie werden sichtbar in einer schnellen Schrift am Rand einer Buchseite. Oder in einem hellen Freudentanz.

Sie sind im Herzhimmel aufgeschrieben.
Der Herzhimmel ist eine große Weite in mir.
Für Worte. Für Gebete. Für Erinnerungen. Für Wunder. Für Gott. Und für seine schönsten Schätze:
Abrahams Schoß und Saras Lächeln. Moses Körbchen und Miriams Trommeln. Sogar die Posaunen von Jericho. Jakobs Leiter und Josephs bunter Rock. Davids Harfe und Salomos Seide.
Im Herzhimmel gibt es kein einziges Haus aus fremdem Lehm.
Überall wird draufstehen: Da war ich.

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