Da stehen sie. Müde vom Weg. Maria hält ihren Bauch. Joseph sitzt der große Hut so tief im Gesicht, dass er kaum drunter vorgucken kann. Sie klopfen an. „Wer da?“, klingt die Stimme hinter der Tür. So hart, wie eine Achtjährige das nun mal kann. „Maria und Joseph, zwei arme Leut. Wir haben kein Bett für die Nacht. So nehmt uns doch auf.“ Die Tür bleibt zu, die Stimme hart: „Hier gibt es keine Betten mehr. Geht weiter!“
Landauf, landab haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene jeden Dezember für das Krippenspiel an Heiligabend geprobt. Die Wirtshausszene gehört dazu. Kein Obdach. Das Haus bleibt verschlossen. Aber höchstens 20, 30 Sekunden. Dann kommt die wundersame Wandlung, einer der Wirte hat ein Einsehen. Die Wirtstochter kennt den Weg. Der Stall ist gemütlicher, als man gedacht hat. Und so weiter. Und so weiter?
Ganz egal, wie modern oder traditionell, mit wie viel Bezug auf aktuelle Krisen wir an Heiligabend die Geschichte von Bethlehem in unseren Gottesdiensten aufführen – das Öffnen der Türen, das Öffnen der Herzen ist der Kern der Geschichte. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Maria und Joseph erfahren das in Bethlehem. Die Kinder und wir Erwachsenen sollen es lernen, alle Jahre wieder.
Es ist Advent. Der Satz des Jesaja steht in diesem Jahr darüber, als Einladung, als Verheißung, als Aufgabe. Wir haben das Brotgeben organisiert. Durch „Brot für die Welt“, durch die Kindernothilfe, durch das Team der alten Damen vom Sonntagsfrühstück für Obdachlose. Wir tun eine Menge. Jede dieser Spenden zählt. Jede dieser Taten verändert die Welt ein Stück. Viele von uns engagieren sich, gerade für Menschen, die eine Flucht hinter sich haben. Die meisten von uns haben die Geschichte von Bethlehem und die Wirtshausszene seit ihrer Kindheit gesehen. Ich glaube, dass der Sinn für die Not von Flüchtlingen auch etwas mit dieser ganz tiefen Prägung zu tun hat. Und trotzdem bleiben unsere Türen und Herzen oft genug verschlossen.
Es ist Advent im Jahr der Corona-Krise. Hat dies etwas verändert – außer allem, was wir überlegen und bedenken und neu organisieren müssen in diesem Jahr? Und was uns wieder einmal den Blick für das Wesentliche verstellt. Was in der Tiefe anders sein könnte durch die Krise dieses Jahres?
„Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Das sagte vor einigen Jahren, mitten in der Flüchtlingskrise, der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zur weiteren Aufnahme von Flüchtlingen. Die Corona-Krise hat gezeigt: Dieser Satz stimmt nicht, denn er ist nicht ehrlich. Es ist genau umgekehrt. Wir haben in diesem Jahr erlebt, was alles möglich ist in unserer Gesellschaft. Welche Regeln plötzlich außer Kraft gesetzt und welche Dinge auf den Weg gebracht werden können, wenn ein gesellschaftlicher Konsens und ein politischer Wille dazu da sind. Unsere Möglichkeiten sind so groß! Endlich, begrenzt und eng ist unser Herz.
„Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Lass es dich angehen, wie es anderen Menschen in Not geht. Die Sätze des Jesaja sind groß. Aber unsere Möglichkeiten sind es auch. Ob wir das erkennen und leben? Wir können „ein Schiff schicken“. Es ist gut, dass unsere Kirche dies getan hat. Aber wir können noch viel mehr.