Ulla Hahn beschreibt in ihrem 50er-Jahre-Epos „Das verborgene Wort“ die Kindheit und Jugendzeit eines Mädchens im Rheinland. An Worten und Sätzen entlang tastet sich die Protagonistin Hildegard in die Freiheit – ein großartiger Roman. Eine kleine Episode daraus hat mich neu nachdenklich gemacht:
„Im letzten Herbst ... war ich in der Großenfelder Martinskirche gefirmt worden. Fünf Kirchengemeinden hatten sich zusammengetan, damit sich der Aufwand für den Weihbischof lohnte. ,Widersagt ihr dem Teufel?’ – ,Wir widersagen.’ – ,Und all seinen Werken?’ – ,Wir widersagen.’ Die Zeremonien nahmen mich gefangen wie eh und je. Ich genoss es, die großen, alten Worte im Mund zu fühlen, den Worten nachzulauschen, zu hören, wie sie sich hundertfach verstärkten, wie ich, wie wir alle hier zu ihrer Stärkung beitrugen, ihrer jahrhundertealten Kraft. Doch hörte und fühlte ich sie noch in meinem Herzen? ,Widersagt ihr dem Teufel?’ Dunja hatte sich ertränkt, Maria war krank, und meine Zähne waren so schief, dass ich nur mit geschlossenen Lippen lächelte. Gäbe mir der Teufel gerade Zähne, ich widersagte ihm nicht. Die krummen kamen schließlich von Gott.“ (Hahn, S. 324)
Die Wucht des Wortes, das Mysterium vertrauter Sätze, gregorianischer Gesang, Mantras oder Predigt. Liturgische Wiederholungssituation oder Christoph Blumhardts „Protestleute gegen den Tod“? Auf welche Seite schlage ich mich, schlägt es mich?
Mir geht es – je länger, je mehr – wie Hildegard. Ich genieße es, die großen, alten Worte im Mund zu fühlen, den Worten nachzulauschen, zu hören, wie sie sich hundertfach verstärken, wie ich, wie wir alle zu ihrer Stärkung beitragen, ihrer jahrhundertealten Kraft. Doch höre und fühle ich sie noch in meinem Herzen? Werden die Worte lebendig, wurzeln sie sich ein in Herz und Verstand, in Füße und Hände, oder sind sie der sehnsüchtige Seufzer der Seele, Abgesang meiner Kindheitsträume?
Steht das „Der Herr ist auferstanden!“ der Osternacht, verbunden mit Kerzenprozession und sich steigernder Lichterfülle, das Osterfeuer, der Gottesdienst am Ostermorgen auf dem Friedhof mit seinen Posaunenchorälen und dem trotzigen „Christ ist erstanden“ – steht dieses große, alte Wort nur in meiner Agende oder erfüllt es mein Herz? Glaube ich? Glaube ich an die Auferstehung?
Diese Frage untergräbt meine „pastorale Autorität“ an jedem Sonntag neu, bei jeder Beerdigung, bei jeder Taufe. Die „Christusfinsternis“, von der ich gelegentlich schreibe, ist meine Christusfinsternis. Im Kern ist die „Christusfinsternis“ eine „Auferstehungsfinsternis“.
Otto Haendler hat in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts folgenden homiletischen Rat gegeben. „Der christologisch gehemmte Theologe nehme das mit Ernst und Liebe vor, was er an Christentum hat, wenn er diesen Besitz auch nur als Torso, besser als ,Vorhofchristentum’ empfindet. ... er nehme Christus in seiner Lebendigkeit, er nehme ihn, sehr ernsthaft ,in Gottes Namen’, ohne Christologie. ... Er habe Geduld zu warten, ob sich ihm eine Christologie bildet oder nicht.“ (Händler, S. 118f) Und wenn sich die Christologie nicht bildet? Oder wenn sie sich anders als in Schrift und Bekenntnis bildet?
Dorothee Sölle schreibt: „Ich glaube an das Leben nach dem Tod, das Leben, das weitergeht nach meinem individuellen Tod, an den Frieden, der vielleicht irgendwann einmal sein wird, wenn ich schon lange tot bin, an die Gerechtigkeit und die Freude. Ich glaube nicht an eine individuelle Fortexistenz, und ich möchte auch nicht in die Lage kommen, daran glauben zu müssen. Ich empfinde das wie eine Krücke des Glaubens, aber eigentlich sollten wir ja gehen lernen, und ich möchte gehen lernen, ohne mich dieser bürgerlichen Krücke bedienen zu müssen. ...
Die individuelle geistige, seelische und körperliche Existenz endet mit dem Tod. Das ist kein Gedanke, der mir Schrecken einflößt, dass ich ein Teil der Natur bin, dass ich wie ein Blatt herunterfalle und vermodere, und dann wächst der Baum weiter, und das Gras wächst, und die Vögel singen, und ich bin ein Teil dieses Ganzen. Ich bin zu Hause in diesem Kosmos, ohne dass ich jetzt meine Teilhaftigkeit, die ich vielleicht siebzig Jahre lang gehabt habe, weiterleben müsste.“ (Sölle, Gegenwind, Erinnerungen, Hamburg 1995, S. 302)
Ist es mein „bürgerlicher Rest“, ist es meine Hybris, mein Größenwahn oder meine Angst, dass mir solcher „Auferstehungsglaube“ nicht reicht, sosehr ich D. Sölle schätze?
Mein Dilemma ist eher dies: Durch mantrahaftes Wiederholen der Antwort werden die Worte noch nicht lebendig und wurzeln sich nicht ein in Herz und Seele. Nach über vier Jahrzehnten (Predigt-)Geduld mit mir selbst stelle ich fest: Mir hat sich noch keine Christologie gebildet, die einerseits tief in den biblischen Schriften wurzelt und andererseits Herz und Seele überzeugt und bewegt. Nur Worte finde ich, die andere zu überzeugen scheinen, die mir „trauen“. Beim Reden und Schreiben bildet sich im Augenblick Überzeugendes – auch mich selbst Überzeugendes –, um mich dann wieder allein zu lassen.
Ich will ja an Auferstehung glauben, an die Auferstehung Jesu, an die Auferstehung der Toten, und damit auch hoffen auf meine eigene, und nicht nur auf die. Aber es stellen sich immer wieder Zweifel ein, oder zumindest andere Bilder als die biblischen.
Ähnlich wird es den Christen in Korinth gegangen sein. Nicht anders als wir lebten sie in „multikultureller Landschaft“ mit vielfältigen Sinnangeboten und spirituellen Wegen. Die Verführung, auf dem religiösen Markt shoppen zu gehen, ist groß. Doch: Kämpferischer biblischer Fundamentalismus, trotziger Paulinismus ist auch eine Verführung.
Ich muss wohl – um ein Bild von H. Thielicke aufzugreifen – nicht nur beim Glauben an Gott, ich muss auch in meinem Christusglauben und in meiner Auferstehungshoffnung von Bild zu Bild springen, wie ich auf dem Weg ans andere Ufer von Eisscholle zu Eisscholle springen muss, um einen Fluss zu überqueren, in dem Eisschollen treiben. Muss üben, Bilder loszulassen, um neue Bilder zu finden, die ich wieder loslassen muss. Intellektuell redlich, seelsorgerlich eine Zumutung.
Wir werden an Ostern Auferstehung predigen. Wir dürfen an Ostern Auferstehung predigen. Es wird darauf ankommen, mit allem persönlichen Gewicht, unter Zuhilfenahme aller „Zeugnisse“ aus der Tradition, unter Aufnahme aller Widerreden, Frustrationen und Zweifel unter den Hörern glaubwürdig nach der „Mitte“ unseres Glaubens zu suchen, diese Mitte zu bezeugen und in die oft konturenlose Hoffnung/Hoffnungslosigkeit der Hörerinnen und Hörer hinein zu übersetzen.
Dazu möge diese Ausgabe der PASTORALBLÄTTER ihren guten Dienst tun.