Predigt und Erinnerung – „Jesus, remember me“

Ich weise auf den kurzen Beitrag von Bernd Diebner am Ende des Heftes hin, der sich exegetisch mit zkr und der jüdischen „Erinnerungskultur“ befasst.

Unser Wissen ist Stückwerk. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. (1. Korinther 13, 9a.12)

Erinnern lehrt die Sprache der Hoffnung
In seiner „Predigtlehre“ (München 1971) widmet Rudolf Bohren der Erinnerung ein eigenes Kapitel (S. 159ff). Er begründet die Predigt in der Erinnerung Gottes. Zahlreiche Stellen der Bibel belegen: Gottes Gedenken, seine Selbsterinnerung an seinen Bund, an frühere Heilstat, „ändert die Lage, wendet die Not, rettet … befreit vom Unglück überhaupt“. (S. 160) Darum kann der Akt der Gebetserhörung mit zkr umschrieben werden.
„Damit … beginnt das Ereignis der Predigt als Gottes Wort, dass Gott sich selbst seiner Vergangenheit, seines Bundes, dass er sich der Erzväter, der Einmaligkeit des Opfers Christi und also seines ewigen Erbarmens erinnert. In dieser Selbsterinnerung Gottes hebt das Ereignis an, das im Erinnern der Predigt seinen Fortgang nimmt. Das innergött­liche Reden, das Wort Gottes zu sich selbst, wird zu einem Wort an Menschen. Gott erinnert nicht nur sich selbst, sondern auch den Men­schen an das, was er gestern tat; denn von dem, was Gott gestern tat, lebt der Mensch heute noch. … Predigt ist nicht nur Erinnerung, sie ruft gleichzeitig auf zur Erinnerung; in der Erinnerung an vergangene Tat wird Gott offenbar, erkennbar.“ (S. 161f)
„Indem der Lebendige uns erinnert an das Heil, das er gestern schaffte, an das Wort, das er gestern sprach, schafft er heute Heil, spricht er heute sein schöpferisches Wort, verkündigt er das Zukünftige (vgl. Joh 16,13b).“ (S. 162)
„In diesem Betracht ist Predigt Provokation des Heils, wie sie ihrerseits durch geschehenes und geschehendes Heil her­vorgerufen wird. (S. 166)
„Der Dienst des Predigers geschieht wie der Dienst dessen, der das Abendmahl austeilt, ,zu seinem Gedächtnis‘.“ Predigt ist damit zu verstehen „als Akt der Erinnerung. Sie gleicht dem Brechen des Brotes, dass sie das Schweigen bricht wie Brot.“ (S. 168f)
„Das Erinnern lehrt die Sprache der Hoffnung. Erinnerung ist Begeisterung für das Alte auf das Künftige hin, ist Sage auf Weissagung hin, ein Rückschritt nach Vorwärts!“ (S. 163)

Corona, jüdisches Zeitverständnis und Erinnerung
„Die Technik hat alle Entfernungen überwunden, aber keine Nähe geschaffen“, lesen wir bei Martin Heidegger. Diese Meinung des Philosophen hat sich in Zeiten von Corona bestätigt. Covid 19 trennt, setzt Abstände, reißt Lücken, vereinsamt. Vor Begegnung wird gewarnt, Kontakt ist schädlich, Miteinander macht Angst.
Wohl boomt die technische, die digitale, virtuelle Begegnung, aber die „echte“ Nähe fehlt den Menschen. Das führte während des „Lockdowns“ im März/April 2020 schon früh zu „Öffnungsdiskussionsorgien“. Menschen wollen nicht abseits stehen, nicht abgesondert werden. Menschen wollen „dazugehören“.
Die Erfahrung des Zerbrochenseins, der Vereinzelung, der fehlenden Zugehörigkeit, des „Aus-dem-Zusammenhang-gerissen-Seins“ ist eine zutiefst menschliche Erfahrung, die sich auch biblisch in der Paradiesgeschichte (1. Mose 3,23f), über das Exil (Psalm 137), über die Abschiedsreden Jesu (Joh 13,36ff) bis zur Überwindung der Spaltung am Ende der Zeit (Offb 21) immer wieder niederschlägt.
Charlotte Knobloch schrieb zum Pessachfest 2013: „Gedenken, Erinnerung spielt im Judentum eine zentrale Rolle. Erinnerung an die Verheißung von Haschem, an das Geschenk des Landes und an den Bund. 169-mal begegnet uns der Wortstamm zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Eine jüdische Weisheit lautet: ,Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet Erinnerung.‘ Und Elie Wiesel hat einmal festgestellt: ,To be a Jew is to remember.‘“
„Ein vielzitierter Satz aus der Pessach Haggadah erinnert uns daran, dass wir in jeder Generation verpflichtet sind, uns zu betrachten, als wären wir persönlich aus Mitzraim herausgezogen. Das gesamte in Jahrhunderten gewachsene Pessach-Ritual könnte man als geglück­tes Konzept betrachten, Erinnerung lebendig fortzuführen, indem sie durch verschiedene kleine Rituale erlebbar und schmackhaft gemacht wurde.“ (Rachel de Boor, in: Dimitrij Belki u. a. (Hrsg.), Neues Judentum – altes Erinnern? Zeiträume des Gedenkens, Berlin 2017, S. 59)
Die Rituale und Feiertage dienen der performativen Vergegenwärtigung: Pessach erinnert so an „die Befreiung des jüdischen Volkes von der Sklaverei und an den Auszug aus Ägypten; Schawuot an die Gabe der Tora am Berg Sinai; Rosch Haschana an die Erschaffung des Menschen; Sukkot an die Laubhütten, in denen die jüdischen Vorfahren während ihrer Reise in der Wüste übernachtet haben.“(a. a. O.)

How fragile we are
Die Fragilität menschlichen Lebens, sowohl des Einzelnen wie der Gesellschaft, wird nach den elenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts immer bewusster.
Sting singt in „Fragile”:
„Perhaps this final act was meant to clinch a lifetime’s argument That nothing comes from violence and nothing ever could For all those born beneath an angry star lest we forget how fragile we are On and on the rain will fall like tears from a star like tears from a star On and on the rain will say how fragile we are how fragile we are.“
Loreena McKennit singt in „Dante‘s Prayer”:
„Though we share this humble path, alone how fragile is the heart Oh give these clay feet wings to fly to touch the face of the stars.”
Henning Luther prägte 1991 mit seinem Buch „Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit“ nachhaltig die Veröffentlichungen über Spiritualität. Direkt bezog er sich dabei auf Dietrich Bonhoeffer.
„Ein Leben, das sich im Beruflichen und Persönlichen voll entfalten kann und so zu einem ausgeglichenen und erfüllten Ganzen wird …, gehört wohl nicht mehr zu den Ansprüchen, die unsere Generation stellen darf. Dar­in liegt wohl der größte Verzicht, der uns Jüngeren … auferlegt ist und abge­nötigt wird. Das Unvollendete, Fragmentarische unseres Le­bens empfinden wir darum wohl besonders stark. Aber ge­rade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen.“ (Widerstand und Ergebung, S. 241f)
„Unsere geistige Existenz … bleibt ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die … bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann“. (a. a. O., S. 246)
Paulus gebraucht im 1. Korintherbrief anstatt „Fragment“ den Ausdruck „Stückwerk“. Stückwerk ist unser Wissen, Stückwerk bleibt unser Leben. Diese Sicht des Paulus ist ermutigend und befreiend zugleich. Ich muss nicht vollkommen sein, kann mit der eigenen Brüchigkeit, meinen Schwächen und Halbheiten leben. Ich bin Fragment, eine Baustelle, die im noch Unvollendeten etwas vom Ganzen ahnen lässt, wenn fragmentarisches Leben gelingt.
Ich habe (unter dem Motto „Alles kommt auf den Tisch“) mehrmals im Gottesdienst mit Scherben und Fragmenten die Zerbrechlichkeit visualisiert. Einmal mit einem Scherbenhaufen aus unterschiedlichen Tontopffragmenten, ein anderes Mal entblätterte ich – um ihrem Geheimnis und ihrem Duft auf die Schliche zu kommen – eine Rose, die sich eben nach dem „Entblößen“ nicht mehr zusammensetzen ließ. Fragmente sind Bruchstücke und übrig gebliebene Reste eines einst Ganzen. Als Fragmente klagen sie, schreien nach dem Ganzen.

Jesus remember me
Es gibt aus Taizé dieses eindrückliche Gebets-Lied „Jesus remember me, when you come into your kingdom”.
Nichts anderes sing Loreena McKennitt in Dante’s Prayer: „Cast your eyes on the ocean, cast your soul to the sea. When the dark night seems endless, please remember me.”
„Member“ ist ein Teil, Glied eines Ganzen. „Re-member“ – das Er-Innern – ist das Wiedereingliedern, das Heilen, das Wiederentdecken des Ganzen.
Als Christ ist mir das mit der Taufe zugesagt: das Einswerden mit der Gemeinschaft, das Einswerden mit Gott, die Entdeckung: Ich bin Teil des Leibes Christi. Bin Teil eines Ganzen. Ich bin nicht vergessen. Ich bin er-innert. Ich bin re-membered.
Deshalb kommen die Menschen zu uns sonntags in die Gottesdienste. Sie tragen eine dunkle Ahnung in sich, Gottesdienst, Predigt, Gebete und Lieder könnten ihnen helfen auf dem Weg der Er-Innerung. Weiß Gott viele Torsos. Zerschellt, zerspalten, weggenommen vom Ganzen, ausgegrenzt vom Glück, wollen sie „erinnert“ werden. Sie wollen „ganz“ werden. Und bestenfalls ahnen sie, dass wir ihnen mit den großen alten Worten und den brüchigen eigenen dazu verhelfen könnten. Ein paar Tage lang. Bis zum nächsten Morgen. Einen Sonntag lang.
Diese Überlegung nimmt auch die Last von uns. Nicht wir „gliedern wieder ein“. Nicht wir machen den Leib, zu dem der oder die Abgebrochenen gehören möchten. Es ist die Gemeinde. Der Heilige Geist gliedert wieder ein, stellt Einheit, Beziehung, das „Gehörige“ wieder her, Tag für Tag, Sonntag für Sonntag, Predigt für Predigt.

Gottesdienst als heilsames Gefüge
Menschen gehen weite Wege zu Orten, an denen ihre Seele Ruhe findet, an denen trotz unbekannter Worte keine fremde Sprache gesprochen wird. Sie wenden sich an die Gemeinschaft. Und in der Gemeinschaft wenden sie sich an die, die Erfahrungen gemacht haben, die den Schatz der Erfahrung anderer bewahren und weitergeben. Wenden sich an Menschen, die Tradition pflegen, Erinnerung einüben. Sie kommen mit ihrem Scherbenhaufen, mit ihren bruchstückhaften Erfahrungen, mit ihrer Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Heimat zu Menschen, die Erfahrungen mit Gott nicht nur studiert, sondern auch Erfahrungen mit Gott „wirklich“ gemacht haben und machen. Sie müssen nicht alles wissen und können. Sie brauchen nicht ohne Fehler zu sein. Sie müssen nicht auf alle Fragen eine Antwort haben. Aber es muss spürbar sein, dass sie selbst ergriffen sind und nicht nur aus den Fußnoten der Sekundärliteratur über die baseleia tou theou predigen.
Ich bin mir sicher: Das ist die eigentliche Antwort, die Menschen in der Kirche, in der Religion suchen – diesen letzten, unbedingten Halt, diese „Zugehörigkeit“, die ihnen ihr Maß gibt, die sie glücklich leben, ruhig schlafen und eines Tages auch in Frieden sterben lässt.
Menschen suchen die erste Quelle, die Originalität, den tiefen Glauben und die Heiligkeit des Ortes und der Menschen. Diesen Zuspruch suchen sie in der Predigt. Ich kann mir wohl sagen: Ich bin ein toller Hecht. Ich kann mir aber nicht oder nur folgenlos sagen: Ich liebe mich. Oder: Ich segne mich. „Ich liebe dich“ oder „Ich segne dich“ oder „Du gehörst dazu“ muss mir ein anderer sagen. Die Predigt spricht diese Worte zu, durchaus als „Wort Gottes“. (Vgl. Jer 1.9: … ich lege meine Worte in deinen Mund.)

Fragt man mich nach meinem Glauben, dann bin ich manchmal um eine Antwort verlegen. Aber in so wichtigen Dingen macht man anderen nichts vor.
Und dann höre ich die Lieder; bete das Vater Unser in der Gemeinde; sehe Kinder nachwachsen voll Vertrauen; besuche Kranke, dem Ja trotz aller Krankheit näher als dem Nein; sehe strahlende Augen und spüre Hände, die bleiben; erlebe, wie Menschen teilen; begegne staunend Christen aus anderen Kontinenten und Kulturen; spüre den Heiligen Geist als die schöpferische und heilende Kraft Gottes in der einen Welt. Mehr und mehr entdecke ich diese Gemeinschaft der Heiligen als große Gnade. Die Gemeinde als eine Gnade mit freiem Zutritt.

Predigt als kreatives Stückwerk
Gelingende Predigt, in der Gott über den Tag hinaus wirkt, wird als ein „kreatives Stückwerk“ des Gottesdienstganzen zur „Poesie des Alltags“. Gott wirkt als Schöpfer, als ποιητης (von ποιεω machen) auch in der und durch die Predigt.
In Zeiten, in denen so vieles schon zerrissen ist – Biografien, Ehen, Werte, deine Zeit –, ist es wichtig, heilende Gefüge, Strukturen zu entdecken. Der Gottesdienst ist ein solches heilendes Gefüge. Hat andere Gesetze als der Markt. Ein weiteres heilendes Gefüge ist das Kirchenjahr. Ein Jammer, wie dieser kostbare Schatz vertan wird.

Erinnern heilt
Religionen scheinen manchen Menschen rückwärtsgewandt. Das sind sie auch. Sie nähren sich von Quellen, die im Verborgenen liegen. Im Verborgenen der menschlichen Seele. Im Verborgenen der menschlichen Geschichte. Im Verborgenen der Vergangenheit unseres Kosmos. Auf der Suche nach diesen Quellen meditieren die einen, versunken in Gebet und abgeschirmt von störenden Sinneseindrücken. Andere forschen in Labors, suchen im kleinsten Detail eines Moleküls die Antwort. Andere suchen den Himmel ab nach neuen Milchstraßen, nach anderen Universen, nach dem Urknall und dem, was die hebräische Sprache „me-olam ad-olam“ nennt, die Geschichte der Ewigkeiten – von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Im Innern der Seele soll die Antwort liegen.
Im Innern des Kleinsten aller Teilchen.
Im Innern unseres seit 15 Milliarden Jahren auseinanderstrebenden Universums.
Im Innern des dreieinigen Gottes.
Was immer Menschen an Schuld, an Verhängnis, an Umweg oder jetzigem Elend auf der Seele liegt – Gott erinnert sich an seine Verheißung: Ich bin mit dir – alle Tage .... Gott „re-membert“ – das ist Gott. Einer, der die Einheit sucht. Der Weggebrochenes ergänzt. Der Totes zum Leben erweckt. Der Zerschlagenes zärtlich pflegt und sich zu den Geschundenen gesellt.
Der Verkündigungsdienst ruft diese Erinnerung Gottes immer wieder wach, ebenso die Erinnerung an Gott.
Rudolf Bohren weist mit gutem Grund auf Niels Astrup Dahl hin, der meinte, Predigen korrespondiere weniger mit κηρυσσειν (bekannt machen, laut verkündigen) als mit υπομιμνησκειν (erinnern) (a. a. O., S. 168).

Bruchstücke
Lege ein zartes Band
um unsere Sätze.
Binde einen lockereren Knoten
um unsere Versuche.
Befreie uns
von der Fessel
des richtigen Wortes.
Du verstehst.
Gott.

Streue ein Lächeln
in unsere Hast.
Gib eine leichte Melodie
zu unseren Proben.
Und wirf die Bruchstücke unserer Gebete
in den Zauber deiner Himmel.
Du liebst.
Das bleibt.
Gott.

(G. E., Von Achtsamkeit bis Zuversicht. 200 Gebete für den Gottesdienst, Stuttgart 2009)

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