Ich schreibe dieses Editorial Ende März. Die Kundigen sagen, wir seien erst am Anfang der Corona-Pandemie. Niemand weiß, wann der Lockdown endet, wann wir langsam, peu à peu und verantwortungsvoll Schulen, Kitas, Kirchen, Betriebe wieder öffnen können … Ich schreibe also als absoluter Ignorant, wie wir alle Ignoranten sind in diesen Tagen.
Mich überraschte vor Kurzem ein Beitrag im Internet. Matthias Horx (www.horx.com; www.zukunftsinstitut.de) schreibt über die Welt nach Corona. Einen in diesen Zeiten gewagten Blick in die Zukunft, bzw. von dort wieder zurück. Er schreibt „aus dem Herbst 2020“. Diese Standortveränderung des Blicks, diese überraschende Blickrichtung fasziniert mich bei aller Skepsis.
Er schreibt:
„Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.
Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.
Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fußballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.
Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser), stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das
Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, die damit verbunden sind.
Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonierens ohne Second Screen hervor. Auch die ,Messages‘ selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.
Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult. …“ (www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/)
Horx nennt diese neue, seines Erachtens hilfreiche Blickrichtung RE-Gnose – Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung:
„Warum wirkt diese Art der ,Von-Vorne-Szenarios‘ so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir ,in die Zukunft‘ schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme ,auf uns zukommen‘, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. ... Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren ,Events‘, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren…
Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.“
Ende März bin ich – sind wir alle – weit entfernt von einer klaren Einschätzung, wie es im Herbst, wenn die Beiträge dieser PASTORALBLÄTTER-Ausgabe die pastorale Praxis unterstützen und begleiten sollen, mit uns, in uns und um uns aussieht. Ich halte wenig von Prognosen.
Die PASTORALBLÄTTER haben über Frühling und Sommer 2020 zuverlässig in vielen Beiträgen die kirchliche Praxis unterstützt, wohl wissend, dass sich die Gemeindesituation und der Alltag der Pfarrerinnen und Pfarrer, Vikarinnen und Vikare, Prädikantinnen und Prädikanten radikal durch die Corona-Krise verändert hatte.
Ich war mir sicher, dass die Leserinnen und Leser auch bei auf YouTube oder über andere technische Wege ausgestrahlten Andachten, gedruckt versandten Briefe und Gemeindenachrichten die Sonn- und Feiertage wahrnehmen, die dafür vorgesehenen biblischen Texte berücksichtigen und die dazu in den PASTORALBLÄTTERN veröffentlichten und für den praktischen Gebrauch gedachten Beiträge nützen können.
Für die direkt die Corona-Krise betreffenden Passagen haben wir auf der Webseite der PASTORALBLÄTTER (www.pastoralblaetter.de) wie auch auf unserer Facebookseite (www.facebook.com/Pastoralblaetter/) schon im März eine stetig wachsende Materialbörse „Kirche in Zeiten von Corona“ mit Predigten, Textbausteinen, Gebeten und Aktionen ins Leben gerufen. Alle Texte sind frei zugänglich. So konnten wir situationsbezogen Kolleginnen und Kollegen praktisch unterstützen.
An dieser Stelle danke ich allen, die sich an dieser Materialbörse beteiligen, ganz herzlich. Ich spüre deutlich, wie dieser Gedanken- und Ideenaustausch auch unsere geistliche Gemeinschaft stärkt. Gleichzeitig bitte ich um Verständnis dafür, dass – bei dem langen Vorlauf – die „Aktualitäten“ wie Fußball-Euro oder Olympische Spiele – in den Beiträgen der bisherigen Nummern 2020 gelegentlich nicht (mehr) stimmen.
Im Übrigen weise ich jetzt schon daraufhin, dass in der Oktober-Ausgabe etwa 20 Autorinnen und Autoren aus den verschiedensten kirchlichen Arbeitsbereichen in aller gebotenen Kürze ihre Erfahrungen in und mit der Kontaktbeschränkung beschreiben.
„Erinnerung“ ist das übergreifende Thema der September-Ausgabe. Einige Beiträge und die Bausteine greifen das Thema auf. Zudem interessierte mich der Spannungsbogen „Offenbarung“ und „Erinnerung“ homiletisch. Deshalb diesmal zwei Themenbeiträge in der Rubrik „Predigt im Gespräch“.
Schließlich hatte ich – wie zuvor zum Thema „Taufe an nicht üblichen Orten“ (Juni) und „Schulgottesdienste“ (Juli/August) – in einer Sammelanfrage Kolleginnen und Kollegen um „Gemeindenachmittage“ gebeten und war wieder dankbar für die gute Resonanz meines Aufrufs. Sicherlich weiß niemand in diesen Ende-März-Tagen, ob „Gemeindenachmittage“ oder ähnliche Begegnungen im September wieder stattfinden können.
Wir hoffen es natürlich alle.
Wir gießen
unsere Hoffnung
nicht in totes Blei.
Wir legen sie
in deine lebendigen Hände,
Gott.
Gerhard Engelsberger