Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken.
Hebräer 10,24
Pfarrer Karsten Loderstädt, Große Kirchgasse 26, 09456 Annaberg-Buchholz, karsten.loderstaedt@evlks.de
Aufeinander achthaben heißt erst mal genau hinsehen. Exakt das habe ich getan. Nämlich diese Vokabel im Urtext unter die Lupe genommen. Im weltlichen Sprachgebrauch der Griechen kennzeichnete das Wort „achthaben“ die Arbeit der Spione. Spionieren bedingt Beobachtungen bis ins Detail. Der Apostel stellt den Aspekt der Spitzel-Sehkraft in einen positiven Zusammenhang. Nicht auskundschaften, schnüffeln. Sein Gegenüber erkennen, darum geht‘s. Den Menschen wahrnehmen. Sich seiner Lebenssituation bewusst werden. Sich bemühen, ihm Achtung und Respekt entgegenzubringen. Diese Mühe strengt an, ist es aber immer wieder wert.
Denn bei aller Verschiedenheit in Meinungen und Überzeugungen, in Lebenssicht und Glaubensbekenntnis, eint uns beide, mein Gegenüber und mich, dass wir Menschen sind. Auf Augenhöhe. Gottes Kinder. Vom Schöpfer gleichermaßen gewollt und geliebt. Ohne aufeinander achtzuhaben keine Lebensqualität. Jedenfalls nicht nach Gottes Willen.
Deshalb sich kümmern. Meint wiederum nicht schlichte Betreuung. Vielmehr eine aufmerksame und fürsorgliche Zuwendung. Den Kummer auffangen und den Weg aus Enge und Angst in die Freiheit des Lebens ebnen. Man muss das wirklich wollen und in Liebe geschehen lassen, darum geht es.
Das andere Aktionswort in diesem kurzen Aufruf, betrifft den „Ansporn“. Auch hier ist sprach-ursprünglich eine negative Verwendungsweise festzustellen, nämlich „Gereiztheit“. Meint ein in mehrfacher Wirkung provozierendes Verhalten.
Ich frage mich: Kannte der Apostel diese menschliche Unart, den anderen zu beobachten, um ihm zu schaden? Ihn zu reizen, statt zu helfen? Ich kenne das leider gut. Wir Christen werden nicht nur von der Welt observiert. Wir stellen uns wechselseitig unter Beobachtung. Manchmal lauern wir anderen regelrecht auf. Vor und hinter Kirchenmauern.
Eine gereizte Stimmung wucherte während des Lockdowns der Pandemie wie Unkraut im Rosenbeet. Und das in dem Jahr, welches unter dem Leitwort der Barmherzigkeit steht. Jesus ruft dazu auf. Er begründet den Anspruch, weil ein Zuspruch darin steckt. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ So soll unser Umgang sein so wie er mit uns großzügig gütig und gnädig umgeht. Uns hütet wie seinen Augapfel. Denn wir sind die Kostbaren in seinen Augen. Wenn wir uns liebend anreizen, Gutes zu tun, dann wird das eine Antwort darauf sein.
Weil Christus in unseren Herzen lebt und unser Herz für ihn schlägt, darum wollen wir Zeichen setzen. Niemanden ausgrenzen. Keinen abwerten. Der Mensch neben mir ist mein Nächster. Das ist der Ansporn. Braucht es mehr? Doch ich muss das erkennen wollen. Und muss darauf vertrauen, dass jede Begegnung von Gott begleitet wird. Seine Liebe trägt. Uneingeschränkt. Ewig.
Hinsichtlich guter Werke lässt sich viel aufzählen. Wesentlich dabei ist das Prinzip der Barmherzigkeit! Sie geht beispielsweise mit der gebotenen Feindesliebe einher.
Der 92-jährige Jörg Zink schreibt zu Weihnachten vor sieben Jahren, dass die Liebe zum Feind die Voraussetzung für den Frieden ist. „Es ist eine Frage der Weisheit, den Feind so zu achten, dass man ihn versteht und dieses Verstehen einbringen kann in die Begegnung mit ihm, denn das ist der einzige Weg zum Frieden … Den Feind lieben“ – und das nenne ich die höchste Stufe des Achthabens – „heißt unterscheiden zwischen dem Unrecht und dem Menschen, der es begeht: das Unrecht bekämpfen und zugleich versuchen, den Täter womöglich zum Freund zu gewinnen.“ (aus: Matthias Morgenroth, Jörg Zink. Eine Biographie) Aber alles Großartige wie eine solche Freundschaftsanfrage beginnt unspektakulär klein. Genau hinschauen. Zwischen den Zeilen lesen. Aus Pausen und Seufzern heraushören. Die Hände öffnen und ausstrecken. Und wenn‘s gelingt, einmal öfter dem Grundsatz der jüdischen Weisheit folgen: „Je schlechter der Mensch ist, umso mehr muss man ihm in seiner Not beistehen!“