3. Oktober 2021
18. Sonntag nach Trinitatis
Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
1. Johannes 4,21
Gebote wie dieses leben leibhaftig in unserer Nachbarschaft. Sie sprechen aus anderen Menschen zu uns. Anders geht es im Netz zu. Wie schnell finden sich dort Gleichgesinnte, mit denen man sich verbunden fühlt! Was aber geschieht, wenn diese als „gesinnungsverwandt“ vermuteten einander leibhaftig begegnen?
Eine Jugendliche trifft ganz unverhofft in der Konfigruppe auf eine ihr bis dahin persönlich unbekannte Instagram-„Freundin“ und ist irritiert: So sieht die aus? So bewegt sie sich, singt, redet, hält sich? Im Gespräch wächst das Staunen: So, wie sie wirklich sind, haben sie sich in der Tat etwas zu sagen. Ein reger Austausch beginnt – wer bin ich, wovon träume ich, worauf hoffe ich, wovor habe ich Angst? Denn beide erleben: Wir gehören in der Tat zu einer „Familie“. Eine völlig neue, tiefere Qualität von Beziehung tut sich auf.
Geschmacksgemeinschaften im Showgeschäft, wie die sozialen Netzwerke sie bieten, sind von sehr anderer Art als das, was Menschen miteinander teilen, die sich in Liebe verbunden wissen. Und darum – auch wenn die eigene Mama in der Instagram-Gemeinschaft ebenfalls nicht auftaucht – sind beide sich einig: Menschen, die sie bewundern, finden sie nicht auf Instagram, sondern dort, wo andere sich ihnen in unhinterfragter persönlicher, leiblich verankerter liebevoller Gemeinschaft zuwenden.
Der Anspruch des Wochenspruchs geht allerdings weiter. Er verweist uns wie alles, was wir von Jesus Christus lernen, auch auf die „ganz Unbekannten“, mit uns zunächst überhaupt nicht Verbundenen und Vernetzten. Was und wie wir mit ihnen in der Liebe Gottes vereint und aufeinander gewiesen werden, lässt sich aus der persönlichen Begegnung dieser beiden Jugendlichen dennoch schließen: Liebe ist immer konkret und auf irdisch-leibliche Gegenwart bezogen. Auch dort, wo wir uns den „fernsten Nächsten“ in Liebe verbunden wissen, fordert sie mehr als virtuelle Präsenz.
10. Oktober 2021
19. Sonntag nach Trinitatis
Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.
Jeremia 17,14
Können Gebete einen Virus vertreiben? Wer sein Glauben gegen Medizin und Wissenschaft behaupten will, gerät in unseren Tagen schnell in den Ruf der Weltfremdheit. Was aber, wenn auch eine weltweite Pandemie, ähnlich wie manches andere menschliche Leid, zu entscheidenden Anteilen in einer menschlichen Haltung und menschlichem Handeln gründen?
Beides kann für das öffnen und offen halten, was an Göttlichem, Ewigem zur Entfaltung kommen will. Oder es verhindert und verstellt diesen ewigen Funken, diese Kraft zum Leben. Oft – fast immer – liegt die Ursache für eine tiefere Krankheit und Gottverlassenheit darin, dass der Mensch versucht, sich an die Stelle Gottes zu setzen. Wenn er erzwingen, herrschen und Macht ausüben will – auch dort, wo sich die Dinge menschlicher Macht entziehen. In der Sprache des Glaubens nennen wir solche Verkrümmung und Verstrickung „Sünde“. Von unseren Vorfahren im Glauben, aus der Weisheit der Bibel wissen wir, dass diese Form der Gottes-Ferne, der Verirrung und Zerstörung zum Menschlichen gehört. Ebenso leuchtet in jedem Menschen, selbst in denen, die auf uns entstellt und unmenschlich wirken, etwas vom göttlichen Funken. „Zwei Seelen ringen, ach, in meiner Brust“ – so formuliert Goethes Faust diesen „menschlichen Urzustand“. Die Worte des Wochenspruchs aus dem Buch des Propheten Jeremia zeugen von einem solchen Ringen. Der Prophet will sich Gott und seinem Wirken überlassen, weil er weiß, dass erst im Los- und Überlassen an ewige Mächte Heilung geschieht und seine Berufung zur Vollendung kommt. Heilung, wie der Mensch sie nie erzwingen oder machen kann, auch nicht mit Impfstoffen, Coronatests und Beatmungsgeräten.
Und so könnte es sein, dass gerade in diesen Zeiten der Suche nach einer Neuordnung und Heilung der Welt eine Gott-ergebene, sich Gott überlassende Haltung Wege zum Gesunden aufzeigt: In der Gott-offenheit, wie wir sie in unseren Gottesdiensten feiern, suchen wir nach Lösung aus der Sünde der Selbstverstrickung und menschlicher Zwänge.
17. Oktober 2021
20. Sonntag nach Trinitatis
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Micha 6,8
Ob Rechte, Weisungen oder Gesetze eher Freiheit geben oder Menschen unterwerfen – über diese Frage wird derzeit global zwischen politischen Systemen gestritten. Dabei geht es zunächst bestenfalls um Werte und ethische Maßstäbe, die miteinander konkurrieren. Anders im Horizont des Glaubens. Dort schreiben wir den Geltungsanspruch von Werten einer Macht zu, deren Horizont weiter reicht, als menschliches Verstehen. Vom Glauben Israels lernen wir, in Gottes Geboten lebensdienliche Weisungen zu erkennen, die Gestaltungsräume eröffnen. Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten ist der Anfang der Liebe Gottes zu seinem Volk und damit auch der Anlass für die Gebote. Vom ersten Atemzug und erstem Buchstaben des Alphabets bis zum letzten preisen die Kinder Israels Gott für die gute Gabe seiner Weisung – so in Psalm 119, der diesen Sonntag bestimmt. Die „Erdförmigkeit“, die Humilitas, wie sie von „Humus“ oder auch „Adam“, hebräisch für „Erdling“ oder „Kind der Erde“, abgeleitet wird, führt zum Wesen der Gotteskindschaft. Aus diesem Boden wächst, was auf Gott hin ausrichtet: Liebe und Lebensfreude. Im Menschen sind sie Ausdruck eines dankbaren Bewusstseins um die eigene Geschöpflichkeit, die die Erde und alle Mitgeschöpfe umfasst. So kann das reifen, was „gut“ ist und Gutes wirkt.
Sinnbildlich wird die familiäre Gemeinschaft aller Kinder der Erde mit Gott im Regenbogen – dem Symbol für Gottes Bund mit den Menschen, wie er in einer der Lesungen des Sonntags vor Augen geführt wird. In aller Erdenförmigkeit auf diesen Bund blickend, können wir uns dankbar bewusst werden, wie Worte und Weisungen Gottes uns selbst in einer großen weltweiten Krise Anregungen geben, die zum Leben in Fülle befähigen.
24. Oktober 2021
21. Sonntag nach Trinitatis
Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Römer 12,21
Wenn einschneidende Veränderungen anstehen, bringt das meist auch große Krisen mit sich. Wir können dies in der Geschichte erkennen: Wo das Bisherige überholt ist und einzelne Menschen, Menschengruppen oder gar die ganze Menschheit sich im Umbruch befindet, gerät vieles aus dem Gleichgewicht. Das ist in jeder einzelnen Familie so – etwa, wenn ein wichtiger Mensch stirbt oder geboren wird, wenn mit dem Schulanfang oder dem Ende der beruflichen Laufbahn ein neuer Lebensabschnitt erreicht ist. Und es gilt für die Veränderungen der kleineren oder größeren Menschheitsfamilien.
Epochenwechsel und die mit ihnen verbundenen Krisen sind meist mit neuen Entdeckungen, Erfindungen oder technologische Erneuerungen verbunden. Die digitale Wende stellt uns derzeit mitten in einen solchen Umbruch hinein. Er betrifft unsere ganze Erde, also die gesamte Menschheitsfamilie.
Und so erleben wir uns und unsere Welt und deren Gesellschaften derzeit in einer großen Krise. Wie immer in solchen Zeiten, gibt es Menschen, die kein Interesse an den mit dieser Krise verbundenen Veränderungen haben oder die sich vor ihnen fürchten. Sie halten an ihrer alten Macht, ihren alten Ansprüchen oder ihrer bisherigen Sicht auf die Welt fest. Oft ist ihnen dafür jedes Mittel recht und sie scheuen auch nicht den Einsatz von Gewalt.
In solchen Zeiten wird das besonders gebraucht, wozu uns der christliche Glaube und die in ihm gründende Ethik Wegweisung geben: Gottvertrauen und innere Gewissheit über das, was dem Guten dient. Dazu die Bereitschaft, sich für dieses Gute mit aller Kraft und allen Begabungen einzusetzen.
Der Vers aus dem Römerbrief gibt dafür sehr einfache, aber grundlegende Hinweise: Er fordert dazu auf, sich von zerstörerischen Mächten zu befreien. Auch denen, die mit Macht an der alten Ordnung festhalten wollen. Die Worte „Überwinde das Böse mit Gutem“ weisen zugleich darauf hin, dass dies nur gelingen kann, wenn unser Weg aus einer anderen, einer heilvolleren Gegenmacht genährt wird.
Dietrich Bonhoeffer formuliert in seinem Glaubensbekenntnis das Vertrauen, dass „Gott aus allem, auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Dazu braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Guten dienen lassen.“
Aus den asiatischen Kampfkünsten lernen wir dafür etwas, was auch Jesus seinen Leuten mit auf den Weg gegeben hat: Statt die Aggression des Gegenübers aufzugreifen und zu erwidern, lasst sie ins Leere laufen und nutzt sie, um den anderen zu überrumpeln. Die guten Kräfte – chinesisch „Qi“ – gehen auf krummen Wegen. So entwinden sie sich „Sha“, den bösen Energien, die nur geradeaus gehen können.
„Entfeindet euch“ – lautet die Botschaft Jesu. Wenn euch jemand zum Feind macht, gebt ihm zu verstehen, dass ihr ihn dennoch schätzt und respektiert. Seid dabei „klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben“ (Mt 10,16). So können wir dem Epochenwandel auf die Beine helfen.
Reformationstag
31. Oktober 2021
Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte.
Psalm 130,4
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – das oft zitierte Wort von Gesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Pandemie kommt mir als Erstes in den Sinn, wenn ich über den Wochenspruch nachdenke.
Das Eingeständnis von Schuld, die Bitte um Vergebung und die Frage nach der Wiederherstellung einer nach dem Prinzip Gerechtigkeit gestalteten Beziehung prägen derzeit auch in anderen Fragen die öffentliche Wahrnehmung: Sei es die Rolle Frankreichs im Bürgerkrieg und Genozid in Ruanda, sei es der deutsche Völkermord an den Herero in Namibia, seien es die Rückgabeforderungen ehemals kolonisierter Länder betreffend den Raub an Kulturgut im Rahmen kolonialer Eroberungen.
Um einen Prozess des Eingeständnisses von Schuld und der gegenseitigen Vergebung haben sich auch die Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche angesichts des 500. Reformationsjubiläums 2017 bemüht.
Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten – dies gilt in der Psychoanalyse als der heilende Dreischritt, der für einen Neuanfang nach großen Verletzungen benötigt wird.
Vergebung braucht Erinnerung. Sie braucht das konkrete Benennen von Schuld, von Opfern und Tätern, von Verletzungen, die der heilenden Fürsorge bedürfen. Vergebung braucht aber auch die Bereitschaft, mit Wunden und Narben zu leben, die bleiben, das Unvollkommene und Unvollendete als Teil der eigenen Geschichte und Identität anzunehmen. Wohl denen, die um höhere Mächte wissen, denen sie diese Brüche und Ungereimtheiten anvertrauen können. Wohl denen, die jenseits von ausgleichender Gerechtigkeit wissen, wo sie den Ballast aus Schuld und Verstrickung, aus eigenen Traumata und dem, was sie anderen angetan haben, ablegen können.
Und das gilt vielleicht auf ganz besondere Weise für diejenigen, deren freies Bekenntnis und Zeugnis in den Wirrungen der Zeit und den endlos scheinenden Debatten um kirchliche Reformprozesse viel zu selten zu hören sind: die „Gemeinschaft der Heiligen“; ganz egal, aus welcher Konfession sie sich zu Worte meldet. Vergebung könnte für sie heißen: Ballast abwerfen, um das Zeugnis von der Frohen Botschaft wieder zum Kern des Lebens und Handelns zu machen.