Über ein solches Gedicht predigen? Lesen soll ein Mensch es. Oder mehrere lesen in mehreren Rollen. Da wäre das „Ich“. Mit ihm beginnt das Poem. Das „Ich“ hat einen einzigen Gegenstand seiner Betrachtung, seiner Liebe: Das „Du“ des „Jesulein“, wie es im Original bei Gerhardt genannt wird. Es ist ja ein Kind, ein herzallerliebstes Kind. Es ist DAS Kind aller Kinder, Mensch aller Menschen und gerade und nur so nun auch der wahre Gott. Damit wären wir schon angelangt bei der Tiefe und Weite dieses Weihnachtsgedichts und Weihnachtsliedes par excellence.
Wir könnten weitere Lesende uns vorstellen neben dem „Ich“ und dem „Du“. Es könnten Kurzauftritte haben etwa „mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut“, denn das „Ich“ mag zwar letztlich, aber nicht immer tatsächlich mit dem allem identisch sein. „Mein Geist und Sinn“ mag mir zwar immer gehören, steht mir aber nicht immer zur Verfügung. Es gibt, mal weniger, mal mehr schmerzlich empfunden, eine Differenz zwischen „mir“ und „mir“. Das muss man nicht „christlich“ sofort als die Wirkung von „Sünde“ deuten. Dass zwischen „mir“ und „mir“ oft eine Lücke, Ferne, eine Trennung ist, hat seinen Grund in des Menschen Sehnsucht, mit sich selbst eins zu werden, aber nicht zu sein. Daran hindern auch äußere Einflüsse. Da stört auch die Sünde, sofern wir unter „Sünde“ nicht primär etwas Moralisches verstehen, sondern den Drang des Menschen, sich permanent abzusichern, im Zweifel auf Kosten der Wahrheit und auf Kosten der anderen.
Dass ich mit mir selbst nicht ganz eins bin, hat seinen Grund aber tatsächlich auch in äußeren Gegebenheiten, in den Zumutungen des Lebens wie schwerer Krankheit, in Todesnachrichten, in Gefangenschaften aller Art. Paul Gerhardt dachte, ganz im Hintergrund seiner Verse, an die Erfahrungen des gerade erst zu Ende gegangenen 30-jährigen Krieges. Sein Weihnachtsliebeslied singt an gegen die realen Erfahrungen von Krieg und Zerstörung, Hunger und Trauer. „Ich lag in tiefster Todesnacht …“
Davon wusste auch Dietrich Bonhoeffer, einer der größten Kenner Paul Gerhardts. Er schrieb am 4. Advent 1943 aus dem Gefängnis, zunächst mit Bezug auf einen anderen Paul-Gerhardt-Vers aus „Fröhlich soll mein Herze springen“:
„Mir geht in den letzten Wochen immer wieder der Vers durch den Kopf: ‚Lasset fahr’n, o liebe Brüder, / was euch quält, / was euch fehlt, / ich bring alles wieder.‘ Was heißt dies: ‚ich bring alles wieder‘? Es geht nichts verloren. In Christus ist alles aufgehoben, aufbewahrt, allerdings in verwandelter Gestalt, durchsichtig, klar, befreit von der Qual des selbstsüchtigen Begehrens. Christus bringt dies alles wieder [ …] Das ‚Gott sucht wieder auf, was vergangen ist‘ bekommt hier seine Erfüllung. Und niemand hat das so einfach und kindlich auszudrücken vermocht wie P. Gerhardt in dem Wort, das er dem Christuskind in den Mund legt: ‚ich bring alles wieder‘. [ …] Außerdem habe ich zum ersten Mal in diesen Tagen das Lied: ‚Ich steh an Deiner Krippe hier …‘ für mich entdeckt. Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht. Man muss wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Wort ganz außerordentlich gefüllt und schön. Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es, aber doch gerade nur so viel, wie es berechtigt ist; es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus, und was das bedeutet, kann gar nicht besser gesagt werden als in diesem Lied …“ (DBW 8, 246).
Bonhoeffer war ein Meister der Schrift-Meditation, ein kundiger Leser und Bewanderter in der Literatur. So wandern seine Impressionen und Gedanken von der Hoffnung auf die Klärung, Verwandlung und Wiederbringung des eigenen Lebens und der eigenen Identität, die im Gefängnis völlig ungeklärt, reduziert und fast zerstört erschienen, hin zu dem „Ich“, das seinen „Christus“ findet und nun auch einmal ganz exklusiv für sich haben – darf ohne die ethischen Ansprüche, mit „anderen“ und „für andere“ da sein zu sollen.
Das „Mit und für“ stimmen ja auch weiterhin, meint Bonhoeffer; aber es ist eben auch das andere wahr und nötig: dass „ich“ „meinem“ „Christus“ nahe kommen kann und dass dieses Kind in der Krippe nicht immer nur die „anderen“ und die ganze Welt umarmt und mich dafür in Anspruch nimmt, sondern speziell nun mich ansieht mit seiner ganzen unerschöpflichen menschlich-göttlichen Liebe!
Und so schaut das „Ich“ auf das Kind nicht nur in Sehnsucht, sondern schon in Erfüllung; denn der eigene Blick spiegelt ja und erwidert den Blick des Kindes:
„Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren …“
Weil „ich“ das „glaube“, hier tatsächlich im Sinne von: „erfahre“, „spüre“, an mir selbst als wahr erlebe, darum erwirkt der Blick des göttlichen Kindes in mir einen göttlich erfüllten Blick. Ich schaue nun selbst auf das Kind in der Krippe, wie dieses auf mich schaut. Der Friede ist vollkommen. Das Himmelreich ist offen. Ich trete hinein.
„Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
dass ich dich möchte fassen!“
Ein „klein wenig mönchisch-mystisch“ fand Dietrich Bonhoeffer diese Intimität. Das „musste“ er, verhalten kritisch, so sagen, in Abwehr einer allzu vertraulichen, „religiösen“ Selbstüberhebung des modernen Menschen, der meint, nun auch noch mit spiritueller Technik sich Gottes bemächtigen zu können.
Das schwierige Thema theologischer Religionskritik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien eine Zeit lang aus der Welt geschafft. In den Kirchen setzten viele auf die „Wiederkehr der Religion“ und „religiöse Erfahrung“. Bonhoeffers Reserve behält aber ihr Recht; denn wovon bei Paul Gerhardt die Rede ist, hat mit allen möglichen spirituellen Techniken, die gerade heute „angesagt“ sind, nichts zu tun. Es geht um das freie Wagnis einer methodisch ungesicherten Liebe. „Ich“ und der „Christus“, bei Bonhoeffer, „Ich“ und „Jesulein“ bei Gerhardt: das Kind in der Krippe. „Ich“ „stehe“ nur davor. Das ist meine ganze Methodik. Mehr mache ich nicht. Ich „stehe“ an der „Krippen“ und lass mich anschauen. Das ist alles. Und ich schaue zurück. Und zwischen dem „Jesulein“ und mir beginnt eine Liebesgeschichte, die aus der Ewigkeit herkommt und in die Ewigkeit hineinführt. Und jetzt ist der Augenblick, da ich das „glaube“ und also auch erfahre – im Glauben.
Was soll man mehr sagen zu diesem Lied der Lieder im nicht nur Evangelischen Gesangbuch? Über Johann Sebastian Bach könnten wir reden, seine Version uns anhören, den Platz betrachten, den das Lied im Weihnachtsoratorium hat.
Wir könnten über das Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes und über die Selbsterniedrigung des allmächtigen Schöpfers in die Gestalt des Krippenkindes meditieren. Wir könnten problematisieren, wer da warum welche Schulden „tilgen“ müsse und ob wir das mit der „Schuld“ und der „Sühne“ heute auch anders sagen könnten. Weitere Stimmen könnten wir näher betrachten: neben der „tiefsten Todesnacht“ vor allem das „Herz“ als den Ort, in dem „Jesulein“ Wohnung nehmen soll und wird. Und damit wäre das Wesentliche gesagt. Der Rest ist Singen.
„Eins aber, hoff ich, wirst du mir,
mein Heiland, nicht versagen:
dass ich dich möge für und für
in, bei und an mir tragen.
So lass mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden.“