Ein langjähriger, ausgezeichneter Autor redet am Telefon über „dieses unmenschliche Leiden Jesu und die buchstäblich nackte Wahrheit“ des Karfreitags. Er scheint selbst im höheren Alter noch oder wieder neu entsetzt.
"Die Würde des Menschen ist antastbar“ (München 2017) ist der Titel eines lesenswerten Essaybandes von Ferdinand von Schirach. Er stellt fest: „Unser gesamtes Denken ist tief und in jedem Bereich vom Christentum beeinflusst. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob wir an einen Gott glauben oder nicht. Das Neue dieser Religion war ja nicht die Erschaffung eines neuen Gottes. Das Neue war die kompromisslose Achtung des Mitmenschen. Unsere Philosophie, unsere Kunst, unsere Kultur sind ohne diese Achtung nicht vorstellbar. Die Achtung vor dem anderen Menschen bedeutet nichts anderes, als ihn zum Subjekt zu machen. Die Verfassung geht daher auch weiter, als Kant das tat: Bei Kant können nur vernünftige Menschen Personen sein – ein Kind oder ein geistig Behinderter fällt nicht darunter. Der Verfassung reicht es hingegen, wenn der Mensch ein Mensch ist. Schon dadurch ist er Subjekt und besitzt Würde. Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann, wenn also über seinen Kopf hinweg entschieden wird, wird er zum Objekt. Und damit ist klar. Der Staat kann ein Leben niemals gegen ein anderes Leben aufwiegen. Keiner kann wertvoller sein als ein anderer, eben weil Menschen keine Gegenstände sind.” (S. 10f)
Wie antastbar die Würde des Menschen ist, erfahren wir täglich. Fürbittengebete sind voll von Beispielen, nicht minder die Nachrichten. Menschen werden einzeln oder in Gruppen zu „Un-Personen“, zu „Ohne-Menschen“, sei es auf der Flucht, im Krieg, im harten Arbeitsleben, auf der Straße, im Ausland, im Fußballstadion, in Prügel-Ländern, in der Dürre, beim Impfstoffgerangel, bei Überschwemmungen, auf überfüllten Krankenhausfluren, nach Erdrutschen und in Statistiken.
Wir wissen viel. Wir wissen nicht alles. Unsere Überheblichkeit spricht Bände. Furchtbar und tödlich hat sich das spätestens bei Covid 19 und bei der Klima-Diskussion gezeigt. In der Summe: Die Opfer unserer (menschlichen) Überheblichkeit sind nicht zu zählen.
Unmenschlich, was ist das eigentlich?
Unpersönlich, was bedeutet das eigentlich?
Wann endet Mitmenschlichkeit?
Gibt es einen definierbaren Übergang zu Unmenschlichkeit?
Ist der fließende Übergang vielleicht die Ohnemenschlichkeit?
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, klagt Jesus.
Mein Mitmensch, warum hast du mich verlassen?
In seinem Theaterstück „Terror“ (München 2016, S. 120f) schreibt von Schirach: „Unser Grundgesetz beginnt mit dem Satz: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ Er steht nicht zufällig am Anfang. Der Satz ist die wichtigste Aussage der Verfassung. Dieser erste Artikel besitzt eine ,Ewigkeitsgarantie‘, das heißt, er kann nicht geändert werden, solange das Grundgesetz gilt. … Und damit ist klar: Der Staat kann niemals ein Leben gegen ein anderes Leben aufwiegen. Auch nicht gegen 100, nicht gegen 1000 Leben. Jeder einzelne … besitzt diese Würde. Menschen sind keine Gegenstände. Das Leben kann nicht in Zahlen gemessen werden, es ist kein Markt.“
Wir sind in der Passionszeit. Wie ist das mit 2. Korinther 5 und anderen wesentlichen neutestamentlichen Stellen, die bis in unsere Liturgie hineinreichen, dieses „pro nobis“ – für uns gestorben (Röm 5,ff u. ö.)? Oder Römer 5,19: „Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten.“ – Oder Epheser 5,1.2: „So ahmt nun Gott nach als geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch.“ Die „Bausteine“ der März-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER führen diesen Gedanken an vielen Stellen fort.
Die Würde des Menschen sei antastbar, meint Ferdinand von Schirach.
Vielleicht kann ich auf dem Hintergrund dieser Fragen und Wider-Sprüche verstehen, dass viele eben auch unter uns Christen den (biblischen?) Opfergedanken – Jesus als väterliches oder Selbst-Opfer zugunsten der Vielen – ablehnen: Ich will nicht, dass ein anderer für mich stirbt!
Über all den aufgeworfenen Fragen sollten wir auf der Suche nach „Wahrheit“ nicht gleich zur österlichen Tagesordnung übergehen, so froh sie uns auch stimmen mag. Der göttliche Karsamstag ist endlich, ja! Aber er dauert …
„Was ist Wahrheit?“, legt Johannes fast freundlich gesonnen Pilatus in den Mund (Joh 18,38). „Der griechische Philosoph Karneades hielt 35 Jahre vor Christus in Rom an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Vorträge. Am ersten Tag begründete er brillant eine Fülle von Rechtsthesen, am zweiten Tag verwarf er sie ebenso brillant wieder. Die Zuhörer waren empört. Dabei bewies Karneades nur, dass die Wahrheit keine Frage der Argumentation ist.” (v. Schirach, Terror, München 2016, S. 131)
Ich nenne zum wiederholten Mal den Titel eines lesenswerten Buches des tschechischen Theologen Tomas Halik (Freiburg 2016) und stelle ihn dem erstgenannten Titel von Schirachs gegenüber:
„Die Würde des Menschen ist antastbar.“
„Geduld mit Gott“.
Die Menschenwürde besitzt „Ewigkeitsgarantie“.
Nicht anders das Geheimnis der göttlichen Liebe.