„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ (Dietrich Bonhoeffer)
Eine beispiellose, denkwürdige Szene kurz vor dem Höhepunkt des Leidens Jesu, der Kreuzigung. Als ob Scheinwerfer den Innenhof des Palastes beleuchten würden, um dieses Bild des Grauens so richtig in Szene zu setzen. Jesus ist umringt von Soldaten. Eine Mischung aus Gewalt, Spott, Hohn und Entwürdigung, die kaum zu überbieten scheint. Am liebsten würde man den Blick abwenden.
Kaiphas, der oberste Hohepriester, und Pilatus wirkten im Hintergrund. Sie hatten ihre „Rollen“ bereits gespielt und die Verurteilung von Jesus ins Rollen gebracht. Kaiphas war zusammen mit dem Hohen Rat verantwortlich für die Einhaltung der Glaubensnormen der damaligen Zeit. Vor diesem kirchlichen Gericht wurde Jesus – nach einem grotesk wirkenden Verhör – wegen unterstellter Gotteslästerung zum Tode verurteilt. Doch die Mächtigen Israels waren in juristischen Belangen abhängig von der Gnade Roms. Dieses Todesurteil durfte nach römischem Recht nicht vollstreckt werden. So wurde Jesus dem römischen Präfekten Pilatus übergeben, der sich nicht sonderlich begeistert zeigte, Jesus zu kreuzigen. Zudem war klar, dass sich die Römer auch nicht für die innerreligiösen Angelegenheiten Israels interessierten. So musste der Verurteilungsgrund entsprechend „angepasst“ werden. Da kam Kaiphas der messianische Anspruch von Jesus, König der Juden zu sein, gerade recht, denn das roch nach Aufstand. So wurde Jesus als politischer Unruhestifter und damit als Feind der Römer angeklagt. Zwar durchschaute Pilatus das zynische Spiel, spielte es aber dennoch weiter, auch wenn er durchaus die Macht gehabt hätte, es zu unterbrechen. Er lavierte, taktierte, schaute und hörte weg, traute sich nicht, sich gegen den Strom zu stellen. Einzig wichtig schien ihm, unangreifbar zu bleiben. So beugte sich Pilatus dem vermeintlichen Diktat der Masse. Denn schließlich wollte er seine Hände in Unschuld waschen.
Und Jesus, der eigentliche Hauptakteur? Jesus stand – von allen verlassen – in diesem Innenhof des Palastes. Wurde von den Soldaten gefoltert, gequält, verhöhnt und verspottet. Und dennoch wirkte er fast eher wie ein Zuschauer denn als Opfer. Was mag wohl in ihm vorgegangen sein? Im Angesicht solch einer nicht zu überbietenden physischen und psychischen Verletzung und Gewalt strahlte er eine eigentümliche Gelassenheit aus. Gelang es ihm, durch das Dunkle hindurchzusehen? Trotz des unermesslichen Leides und der Aussichtslosigkeit der Situation bereits das Geheimnis der Erlösung wahrzunehmen, zu erahnen? Dachte er vielleicht schon jetzt: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34)?
Es waren zwei absurd wirkende „Pseudo-Befragungen“. Der ganze Prozess gegen Jesus eine einzige Farce, denn das Urteil stand schon lange fest. Bei diesem Todesurteil ging es allein um das Entfernen eines unbequemen, kritischen Geistes. Denn Jesus kam den herrschenden Kreisen schon länger in die Quere und war ihnen ein Dorn im Auge.
Kaiphas vertrat die Macht der religiösen Gesetze, Pilatus die Macht des Stärkeren.
Jesus hingegen die Macht der Liebe.
Und die Wahrheit Gottes blieb in dieser Konfrontation mit religiöser und weltlicher Macht auf der Strecke. Sie führte zu Dornenkrone und Purpurmantel. Eine bittere Wahrheit.
Am liebsten möchte man den Blick abwenden.
Doch genau das Gegenteil ist notwendig, um eine Not zu wenden. Jesus richtet unseren Blick mit dieser Szene, mit seinem Leben auf zwei Aspekte.
Zum einen: Leid, Schmerz, Trauer, Angst und Tod gehören zum Leben. Jesus hat es uns vorgelebt, erlebt und durchgehalten. Erst dadurch war der Weg frei zu der Göttlichkeit Jesu, dem Christus.
Auch wir erleben immer wieder, wie wichtig es ist, diese dunklen Seiten des Lebens nicht auszuklammern, sondern anzunehmen und auszuhalten. Sich dem Leben mit all seinen Facetten hinzugeben, ohne auf das Dunkle fixiert, festgenagelt zu bleiben. So dürfen auch wir immer wieder neue Erfahrungen, vielleicht sogar ein Art Erlösung oder Befreiung erleben.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf das menschliche Miteinander. Für dieses Miteinander sind gewisse Regeln notwendig, die einzuhalten sind. Dafür sind entsprechende Strukturen erforderlich, die mit entsprechender Macht ausgestattet, die Einhaltung dieser Regeln überwachen. Das Vorhandensein von Gesetzen, Vorschriften und Regeln wird von Jesus auch keineswegs in Frage gestellt. Kaiphas, Pilatus und viele andere haben das wohl nicht verstanden. Und statt sich angegriffen zu fühlen, hätten sie ihren Blickwinkel weiten und die Perspektive ändern müssen.
Jesus ging es darum, zu erkennen, dass Glaube und Liebe über jedem Gesetz steht.
Jedes Regelwerk auf dieser Welt, so ausgeklügelt es auch sein mag, kann immer nur das Vorletzte sein. Eine bestimmte Werteordnung muss jedoch immer darüberstehen. Und diese Werte können zwar beschrieben oder erklärt werden, doch nicht in ein Gesetz „verpackt“ werden. Glaube, Vertrauen, Liebe lassen sich mit keiner Regel erfassen. Liebe ist das Einzige, was die Welt zusammenhalten kann. Wo diese Kraft der Liebe fehlt, schlägt sie in das Gegenteil um. Hass, Neid, Angst vor Machtverlust, Selbstherrlichkeit, Überheblichkeit, Hohn, Spott und Gewalt – führte zu Dornenkrone und Purpurmantel. Jesus wurde damals nicht verstanden.
Und heute? Wir sind immer noch dabei, die Lektionen von Jesus zu lernen. Es fällt uns schwer, die dunklen Seiten des Lebens anzunehmen, und das Miteinander krankt. Jeder wünscht sich ein offenes, herzliches Miteinander und jeder kann etwas dazu beitragen.
„Viel Kälte ist unter den Menschen, weil wir es nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind.“ (Albert Schweitzer)
Es ginge so viel „herzlicher“ und liebevoller zu auf dieser Welt, wenn wir die Botschaft Jesu beherzigen würden – erst recht in herausfordernden Zeiten.