„Der Mond ist aufgegangen“ oder „Freude schöner Götterfunken“?
Was sollen wir singen?
Im vergangenen Jahr schieden sich die allabendlichen Geister auf den Balkonen Deutschlands. Gemeinsam singen und musizieren gegen Corona – nur wie? Mit dem berauschten Enthusiasmus von „Freude schöner Götterfunken“ himmlische Freuden und untrennbare Freundschaft bejubeln und eine Welt, die von nun an besser wird? Oder lieber nachdenklich-ruhig den nur halb sichtbaren Mond besingen, der uns eitel armen Sündern jede Nacht vor Augen führt, dass wir selten über das Offensichtliche hinausdenken? Wofür hätten – oder haben – Sie sich entschieden? Was liegt Ihnen näher? Das Matthias-Claudius-Lied vom aufgegangenen Mond oder der aufgeklärte Sonnengesang Friedrich Schillers?
Was sollen wir singen? Eher auswendig kennen wir Protestanten vermutlich den „Mond“. Von „Freude schöner Götterfunken“ ist aber – dank Beethoven – die erste Strophe den meisten auch bekannt:
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwert geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
(In der ersten Fassung stand der [zu] revolutionäre Satz:
„Bettler werden Fürstenbrüder“)
wo dein sanfter Flügel weilt.
Freude – Freundschaft – Fest
Die „Ode an die Freude“ besingt überschwänglichen Jubel. Überschäumende Freude. Unbändige Freiheit. Übermütige Gelöstheit. Pures Glück. Sturm und Drang. Man spürt, dass die „Ode an die Freude“ ursprünglich ein Trinklied war:
Freude sprudelt in Pokalen,
in der Traube goldnem Blut
trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut –
Brüder fliegt von euren Sitzen,
wenn der volle Römer kreist,
Lasst den Schaum zum Himmel spritzen:
Dieses Glas dem guten Geist.
Das ist ein Loblied auf fröhliche Stunden mit guten Freunden, köstlichem Wein und klingenden Gläsern. So erzählt es jedenfalls eine Freundin Schillers, Minna Körner, von seinem Besuch in Leipzig: „Die Gläser klangen hell, aber Schiller stieß in seiner enthusiastischen Stimmung so heftig mit mir an, dass mein Glas in Stücke sprang. Der Rotwein floss über das zum ersten Male aufgedeckte Damast-Tuch zu meinem Schreck. Schiller rief: Eine Libation für die Götter! Gießen wir unsere Gläser aus! … (Dann nahm er) die geleerten Gläser und warf sie, dass sie sämtlich in Stücke sprangen, auf das Steinpflaster mit dem leidenschaftlichen Ausruf: Keine Trennung! Keiner soll allein sein! Sei uns ein gemeinsamer Untergang beschieden!“
Wissen – Verstehen – Begreifen
Durchaus sehr irdische Freuden also, die der Dichter besingt. Von der griechischen Antike angehaucht obendrein – Trankopfer für die Götter gibt es im Christentum jedenfalls nicht. Aber die Sehnsucht nach Gemeinschaft, da-nach, wie fein und lieblich es ist, wenn Geschwister einträchtig beieinander sitzen, das schon. Und die unbändige Freude über einen Gott, der uns lebendig macht, auch. Die Freude, die Schillers Becher überfließen lässt, ist göttlichen Ursprungs. Sie stammt von einem Vater, der über den Sternen thront und über die Weltenuhr wacht, in der die Räder von Zeit und Raum in immer gleichem Rhythmus ineinandergreifen:
Freude heißt die starke Feder
in der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
in der großen Weltenuhr.
Brüder – überm Sternenzelt
muss ein lieber Vater wohnen.
Diese Vorstellung kommt nicht von ungefähr. Der schwäbische Pfarrer und Ingenieur Philipp Matthäus Hahn entwickelt im 18. Jahrhundert astronomische Uhren, Globusuhren, wahre Wunderwerke der Technik. Für den Pietisten ist die ineinandergreifende Kraft der Planeten ein Zeichen für die unendliche, väterliche Liebe und Güte Gottes. Gott, der „Welten-Uhrmacher“, hat den Menschen zuliebe die Welt so geschaffen, dass der menschliche Verstand sie begreifen kann. Immer ein Stückchen besser. Darüber freut sich Hahn und widmet sein Leben der Suche nach dem Begreifen von Gottes wundervoller, fein ziselierter Welt. Und auch Schiller ist begeistert von der Idee, sich das Weltgeschehen vorzustellen wie Zahnräder, die ineinandergreifen und von einer einzigen großen Triebfeder angetrieben werden – von der Freude. Freude am Verstehen und Begreifen. Freude an der Freundschaft. Freude miteinander.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Rettung von Tyrannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toten sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
Und die Hölle nicht mehr sein.
Schön wär’s
Auch Schiller weiß, dass es auch anderes gibt. Erlebt hat er genug von Schwierigkeiten und Not. Dennoch klingt seine „Ode“ anders, als wenn Claudius dichtet: „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch“:
Festen Mut in schwerem Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen, –
Brüder, gält’ es Gut und Blut –
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut.
Wie schön wäre es, wenn es so wäre. Wenn man sich einfach nur freuen könnte. Ungebrochen. Voll Enthusiasmus, mit verliebten Schmetterlingen im Bauch und dem Glück, lebendig zu sein. Und doch, ein wenig unbehaglich wird es bei Worten wie „Männerstolz“, „Gut und Blut“ und „Verdienst“.
Nicht von ungefähr ist die „Ode“ im Laufe der Jahrhunderte von Ideologien und Fundamentalisten instrumentalisiert worden, die sich für ungebrochen und unangefochten hielten. Das Apartheid-Regime in Rhodesien – heute Simbabwe – erklärte sie zur Nationalhymne und die Nazis spielten Beethovens 9. Sinfonie zu Hitlers Geburtstag. ¬Thomas Mann lässt zur gleichen Zeit im „Doktor Faustus“ den Komponisten Adrian Leverkühn verzweifelt die 9. Symphonie zurücknehmen. Sie soll nicht sein, weil es die Menschlichkeit nicht gibt, die sie besingt.
Aber auch von Kommunisten oder Demokraten wurde Beethovens 9. mit der „Ode an die Freude“ in Anspruch genommen. Hanns Eisler erklärte sie 1927 zu Beethovens 100. Geburtstag zum geistigen Eigentum der „aufsteigenden Arbeiterklasse“. Die Nato spielte die „Europahymne“ zur Eröffnung ihres Hauptquartiers in Brüssel. Leonard Bernstein dirigierte sie nach dem Fall der Mauer in Berlin im Schauspielhaus mit einem international besetzten Chor und Orchester und verändertem Text: „Freiheit, schöner Götterfunken“. Beethoven und Schiller hätten sicher nichts dagegen gehabt, fand Bernstein damals in einem Interview. Eine der letzten Anekdoten über die Hymne spielt im Februar 2017 im britischen Unterhaus. Während der Stimmauszählung zum Brexit stimmen Abgeordnete aus Schottland die „Ode an die Freude“ an, bis sie der Stellvertreter des Unterhaussprechers mit folgenden Worten zur Ordnung ruft: „Cut, cut, order, order! Order!!! Ich persönlich habe nichts gegen Gesang, aber ich kann das hier im Parlament nicht zulassen. … Ich will hier keinen Sängerwettstreit. Also wenn Sie das gefälligst lassen würden – die Woche war anstrengend genug.“ Lieder – sogar solche über die Freude – lassen sich leicht vereinnahmen, von den einen wie den anderen.
Darum gehören der „Mond ist aufgegangen“ und die „Ode an die Freude“ zusammen. Man kann die „Ode“ nicht singen, ohne an den „Mond“ zu denken. Wir sind nicht ungebrochen. Nicht unangefochten. Nicht unhinterfragt. Das ist der Kern unserer Botschaft in einer Welt, die einfacher eben einfacher wäre. Ist sie aber nicht. Jesus ist ein gebrochener Mann am Kreuz. Den Schuldigern zu vergeben ist eine Lebensaufgabe. Auf die Frage nach dem „Warum“ finden wir keine Antwort. Aber nach Karfreitag kommt Ostern. Nach Himmelfahrt Pfingsten. Nach Advent Weihnachten. Nach Lila kommt Weiß. Nach der Bedenkzeit das Fest.
Nur für heute
Was würde also passieren, wenn wir nur für heute alle Bedenken außer Acht ließen? Was wäre das Schlimmste, das geschehen könnte, wenn wir nur für heute uns mitfreuen würden mit dem göttlichen Funken, der überspringt? Ohne Bedenken, ohne Realismus, ohne Einschränkung. Einfach nur so freuen. Weil Freude uns miteinander verbindet. Weil sie überschwänglich ist und Grenzen sprengt. Weil sie göttliche Funken in unserem Leben entfacht. Und sei es nur für einen kurzen, köstlichen Moment.
Singen wir nur für heute bedenkenlos und enthusiastisch unsere „Oden an die Freude“: „Freuet euch, ihr Christen alle. Freuet euch im Herrn. Freude, Freude über Freude. Meine Hoffnung und meine Freude. Jesu, meine Freude. Ich sehe dich mit Freuden an.“ Sicher fallen Ihnen noch mehr ein. Blättern Sie doch mal im Gesangbuch.
Wenn Sie durch sind, suchen Sie in der Bibel weiter. Da werden Sie zum Beispiel finden: „Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Die auf Gott sehen, werden strahlen vor Freude, und ihr Angesicht soll nicht schamrot werden. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen. Es gab Brot, Kuchen von Feigen und Rosinen, Wein, Öl, dazu Rinder und Schafe in Menge, denn Freude war in Israel.“
Freude ist ein göttlicher Funken, der unsere Gemeinschaft belebt. Sie ist Zeichen göttlicher Leichtigkeit. Voller Freude ist es bei Gott, erzählt Jesus: „Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker.“ In dem Gleichnis ist von Bedenken keine Rede. Von harter Arbeit, vom mühsamen Bücken und Steinesammeln, davon, sich die Hände dreckig zu machen – davon schon. Aber von Bedenken, sich zu freuen über das, was Gott uns schenkt, davon erzählt Jesus nichts. Im Gegenteil: „Die Freude am Herrn ist unsere Stärke“. Ob sie die Triebfeder für eine perfekt funktionierende Weltenuhr ist? Vielleicht. Sicherlich ist sie die Triebfeder für unsere Hoffnung, unseren Mut, unser Hoffen und unser Vertrauen.
Freude hat darum viele Nuancen. Eine davon besingt Friedrich Schiller. Eine andere Matthias Claudius. Und für den Rest haben wir Bibel und Gesangbuch. Welch ein Schatz, über den wir uns doch – in Gottes Namen – wirklich aus vollem Herzen freuen können.
Informationen u. a. aus: „Ode an die Freude – Wie ein Trinklied zur Europahymne wurde“; www.deutschlandfunkkultur.de; 15.05.2019; letzter Zugriff 11.01.2021; es bietet sich an, das Gedicht von Schiller für alle abgedruckt zu verteilen.
Gebet nach Psalm 32
Freut euch, ihr alle, denen Gott ihre Schuld vergeben hat.
Freut euch, die ihr wahrhaftig seid.
Lasst uns reden. Von dem, was uns bedrückt.
Von dem, was uns beschämt.
Von dem, was uns festhält.
Lasst uns beten und nicht schweigen.
Lasst uns reden von unserer Schuld.
Lasst uns reden davon, dass Gott uns vergibt.
Lasst uns reden davon, dass Gott uns beisteht.
Lasst uns jubeln und fröhlich sein.
Dazu hat Gott uns gerettet.
Freuet euch des Herrn und seid fröhlich, ihr Gerechten,
und jauchzet, alle ihr Frommen.
Fürbitten
Du, Gott der Freude,
wir kommen zu dir mit dem Leid der Welt.
Wir bringen dir, woran wir schuldig werden.
Gleichgültigkeit, Neid, Misstrauen.
Wir bringen dir, woran wir leiden.
Krieg, Hunger, Zerstörung.
Wir bringen dir, worüber wir weinen.
Trauer, Hilflosigkeit, Bitternis.
Mache aus Abend Morgen.
Schenke Lachen statt Tränen.
Wandle unsere Trauer in Freude.
Liedvorschläge: |
398 (In dir ist Freude)
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396 (Jesu, meine Freude) |
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34 (Freuet euch, ihr Christen alle) |