Absichtslos schlenderten wir während unseres letztjährigen Urlaubs an einem herrlichen Sonntagabend am Nordseestrand entlang. Ein kleiner Berg, mehr ein Hügel, lud uns ein, einen Blick über das weite Meer zu werfen. Oben angekommen, stellten wir beglückt fest, dass sich dort bereits Menschen zu einer Abendandacht versammelt hatten. Der schwarze Talar der Pfarrerin wies sogar auf einen Abendgottesdienst hin. Das uns freundlich gereichte Liedblatt überraschte uns jedoch sehr, denn die aufgedruckte Liturgie war die eines Traugottesdienstes. Wie sollten wir das verstehen? Zunächst mutmaßten wir, dass es nur um die Lieder gehe. Sie eigneten sich durchaus auch für einen Abendgottesdienst am Meer. Während wir noch nachdachten, eröffnete die Pfarrerin die gottesdienstliche Feier und begrüßte neben der versammelten Menge auch ein Brautpaar. Wo aber war dieses? Weit und breit war kein festlich gekleidetes Paar zu sehen.
Das Rätsel löste sich, als die Pfarrerin mit ihrer Predigt begann und ihren Blick auf ein nettes Paar mittleren Alters richtete. Die beiden im Urlaubsdress gekleideten Menschen lächelten zaghaft zurück. Nun erfuhr die sich zufällig zum Gottesdienst eingefundene Urlaubergemeinde, dass die beiden bereits vor einem Jahr standesamtlich geheiratet und während ihres diesjährigen Urlaubs spontan beschlossen hatten, an diesem schönen Ort den Segen Gottes für ihre Ehe zu erbitten. Schweres lag hinter ihnen. Beide waren geschieden und erlebten nach einer Zeit der Krise nun eine zweite große Liebe. Darum ging es ihnen: um ihre Liebe. Für das Geschenk der Liebe wollten sie Gott danken und seinen Segen erbitten. Ohne Familie, ganz für sich allein, und doch im Kreis von Christinnen und Christen wollten sie inmitten einer willkürlich zusammengekommenen Urlaubergemeinde ihre Liebe besiegeln. Für die beiden Menschen eröffnete der Traugottesdienst unter freiem Himmel den Beginn einer neuen Gottesbeziehung. Die Nähe Gottes spürten sie ganz besonders auf diesem kleinen Hügel mit dem weiten Blick über die Nordsee.
Und was führt Sie, liebe Urlauberinnen und Urlauber, heute zu diesem Platz an der See? Kamen Sie absichtslos, mehr zufällig als geplant, hier vorbei? Oder kamen Sie aufgrund der Flyer, mit denen junge Menschen Sie auf diesen Strandgottesdienst aufmerksam gemacht haben? Wollten Sie einfach mal schauen, was da los ist? Oder freuen Sie sich, mit uns altbekannte und neue Lieder zu singen? Es gibt viele Gründe, weshalb Sie heute hier sind. Ihre Absicht kann und will ich nicht ergründen. Ich will Sie aber ganz herzlich willkommen heißen. Es ist schön, dass gerade Sie da sind und mit uns Gottesdienst feiern.
So zufällig, wie wir heute als Urlaubergemeinde zusammengewürfelt sind, so zufällig zusammengesetzt war oft auch die Gruppe der Menschen, die den Weg Jesu säumten. Wer auch immer diese Menschen waren, Jesus freute sich über sie und erzählte ihnen vom Reich Gottes. Er fragte nicht, was die Menschen hören wollten. Er wusste, sie waren begierig, mehr von Gott zu hören. Die Menschen versammelten sich an unterschiedlichen Orten, manchmal lagerten sie auf einem Berg und manchmal am Ufer eines Sees. Wo auch immer sie waren, Jesus nahm sich Zeit für sie. Er setzte sich zu ihnen und lehrte sie.
Bitte erschrecken Sie nicht bei dem Wort „lehrte sie“. Wenn Jesus lehrte, dann war das keine Belehrung. Wenn Jesus lehrte, erklärte er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern Gottes Wort so, dass sie darüber nachdenken konnten.
Seinem Beispiel will ich heute Vormittag folgen. Ich will Sie nicht belehren, ich will Ihnen von Gott und seiner Liebe zu Ihnen und mir erzählen. Dazu richte ich meinen Blick auf Jesu Bergpredigt. Vielfach wird die Bergpredigt nur unter friedensethischem Gesichtspunkt betrachtet. Dieser Blick aber ist ein verkürzter. Jesus spricht in der Bergpredigt viele Themen an. Es lohnt sich, sie zu lesen. Selbst der Inder Mahatma Gandhi schätzte die Bergpredigt sehr und bezeichnete sie als „Inbegriff des Christentums“, obwohl er selbst der hinduistischen Religion angehörte.
Trotz ihrer Themenvielfalt steht im Zentrum der Bergpredigt eine Frage. Es ist die Frage nach der Gültigkeit des mosaischen Gesetzes. Konkret geht es um die gegenwärtige Gültigkeit der Zehn Gebote. Einige der Gebote nennt Jesus wörtlich, andere sinngemäß. Bei allen aber verdeutlicht er die hinter dem Gebot stehende Absicht: Es geht um ein gutes Leben für alle. Wenn Jesus seine jeweilige Auslegung so einleitet: „Den Alten ist gesagt, ich aber sage euch“, dann vermutet man hinter seinen Worten eine Verschärfung des Gesetzes. In Wahrheit aber stellt er das Gebot in einen nachvollziehbaren Zusammenhang. Ich will dies am Beispiel des Tötens verdeutlichen. Wenn Jesus über dieses Gebot spricht, dann setzt er weit vor der Tat an. Er verurteilt bereits die hasserfüllten Gedanken, die anderen den Tod wünschen. „Du sollst nicht töten“, meint in diesem Zusammenhang: Nimm deine Gedanken in Acht!
Wenn Jesus von den Geboten spricht, dann spricht er zugleich von der menschlichen Freiheit. Es ist eine Freiheit, die mit Verantwortung gepaart ist. Ich bin als Mensch frei, das eine zu tun und das andere zu lassen. Begrenzt wird meine Freiheit jedoch von der Freiheit meiner Mitmenschen.
Wie aber komme ich dazu, meine Freiheit von der Freiheit anderer begrenzen zu lassen? Jesus nennt den einzig gangbaren Weg. Es ist der Weg der Liebe. Jesus illustriert dies mit Worten, die bereits im Alten Testament die Gebote zusammenfassen. Von einem jungen Mann nach dem Weg zum Himmel gefragt, verweist Jesus den Jüngling auf die Gebote und bestätigt ihn, als dieser die Gebote so zitiert:
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. (Lukas 10,27)
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben! Genau darum geht es! Die Liebe zu Gott ist die Voraussetzung für das Halten der Gebote. Zu verstehen ist dies vor dem Hintergrund des ersten Gebotes, in dem es heißt: Ich bin der Herr, dein Gott! Ich bin der, dem du dein Leben verdankst. Ich habe dich aus Liebe als mein Du geschaffen. Weil Gott die Liebe ist und weil ich als sein Geschöpf in diese Liebe eingeschlossen bin, deshalb kann auch ich lieben.
Gottes Liebe allein macht mich liebenswert und liebesfähig. In dieser Aussage ist ein Doppeltes enthalten: die Fähigkeit zur Selbstliebe und zur Nächstenliebe. Nur wenn ich mich selbst liebe, kann ich auch meine Nächsten lieben. Dabei hat die in der Liebe Gottes gegründete Selbstliebe nichts mit einer narzisstischen Eigenliebe zu tun. Ich liebe mich selbst, weil ich von Gott geliebt bin.
Die Selbstliebe macht mich frei, andere um ihrer selbst willen zu lieben. Ohne Selbstliebe ist meine Hinwendung zu anderen motiviert von der Suche nach Liebe. Ohne Selbstliebe fehlt meiner Nächstenliebe der Grund, auf dem ich auch Liebes-Schmerzen und sogar das Zurückweisen der Liebe ertragen kann. Wer sich selbst liebt, muss sich nicht durch den Gegenstand seiner Liebe definieren. Wer sich selbst liebt, wird auch dann nicht zerbrechen, wenn er den Gegenstand seiner Liebe loslassen muss.
Wenn Jesus mit dem Dreifachgebot der Liebe die Zehn Gebote zusammenfasst, dann sagt er damit zugleich: Wenn du jedes einzelne Gebot vor dem Hintergrund der Liebe betrachtest, dann verstehst du die Gebote wirklich. Dann sind es keine Verbote, sondern Anweisungen zu einem erfüllten und glücklichen Leben.
Die Zehn Gebote dem Sinn und nicht dem Buchstaben nach zu erfüllen, das stellt mich vor die Aufgabe, ihren Sinn zu ergründen. Hilfreich ist mir dabei ein Satz, den Jesus ebenfalls in der Bergpredigt in den Raum stellt: „Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 7,12)
Vermutlich ist einigen dieser Satz als Goldene Regel bekannt mit dem Wortlaut: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Aber nicht nur der Volksmund kennt diese Regel, es gibt sie in vergleichbarer Formulierung in vielen Religionen. Trotzdem ist sie für mich in der Formulierung Jesu einzigartig, denn nur bei ihm höre ich sie im Zusammenhang von Gottes Liebe.
Ich höre sie aber auch vor einer weiteren Herausforderung, denn über die Selbst- und Nächstenliebe hinausgehend, fordert Jesus mich auch zur Feindesliebe heraus. Wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, so erscheint mir dies nahezu unmöglich. Ich kann mir auch diese Forderung nur dann zu eigen machen, wenn ich in der Gewissheit von Gottes Liebe lebe. Nur dann zeigt mir das Gebot der Feindesliebe einen Weg an, auf dem ich auch scheitern darf. Es ist ein Weg, auf dem Gott mich an die Hand nimmt, sodass ich, selbst wenn ich hinfalle, wieder aufstehen und weiterlaufen kann.
Von Gott und seiner Liebe hat Jesus facettenreich gesprochen. Es ist eine Liebe, die uns von allen Seiten umgibt, denn es ist die Liebe des Gottes, der uns von allen Seiten umgibt und seine Hand über uns hält. Er hält sie auch dann noch über uns, wenn wir uns von ihm abkehren und meinen, über Wege und Umwege ohne ihn ans Ziel zu kommen. Am Ende aller Wege wird sich zeigen, dass Gott uns immer schon einen Schritt voraus war.
Dass Sie in diesen Urlaubstagen erstmals oder neu über Gott und seine Liebe nachdenken, ist mein Wunsch für Sie!
Eingangsgebet:
Guter Gott!
Danke für diesen Urlaubstag.
Danke für die Schönheit der Natur.
Danke die Musik und die fröhlichen Lieder.
Nimm alles Belastende von uns!
Lass uns stille werden und
hören auf dein Wort!
Bausteine für die Fürbitte:
Gott, unser Schöpfer,
aus deiner Liebe leben wir!
Und doch steht dieser Liebe so vieles entgegen.
Menschen hassen und zerstören einander.
Menschen suchen ihre eigenen Vorteile und
vergessen darüber ihre Mitmenschen.
Wir bitten dich für uns:
Mach uns bereit, uns und andere zu lieben!
Wir bitten dich für Paare und Ehepaare,
lass sie die Liebe neu entdecken!
Wir bitten dich für die Kinder,
lass sie mit Liebe aufwachsen!
Wir bitten dich für Einsame,
lass sie Gemeinschaft erfahren!
Wir bitten dich für die Mächtigen dieser Erde,
lass sie ihre Möglichkeiten einsetzen
für die Bewahrung deiner Schöpfung und
für den Frieden unter den Völkern!
Psalmvorschlag: |
Psalm 139
|
Epistel: |
Römer 13,8–10
|
Liedvorschläge: |
503,1–8 (Geh aus mein Herz und suche Freud)
|
|
272 (Ich lobe meinen Gott)
|
|
515 (Laudato si, o mi signore)
|
|
EG reg (Gottes Liebe ist wie die Sonne)
|
|
503,13–15 (Geh aus mein
Herz und suche Freud) |