Inzidenz, R-Wert, flatten the curve. Nicht genug damit, dem Corona-Virus und seinen Pirouetten ausgeliefert zu sein, nein, ich hatte zu Beginn der Pandemie auch Mühe, die Sprache, in der über dieses Virus gesprochen wurde, zu entschlüsseln. Ich habe versucht, vertraute Wortfetzen zu erhaschen, um mich nicht doppelt verloren zu fühlen. Und so habe ich, wie viele andere auch, dankbar jenen Virologinnen und Virologen, Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten gelauscht, die die Gabe haben, das Neue und Ungeheure allgemein verständlich zu erklären.
Was einen Christian Drosten, einen Ranga Yogeshwar oder eine Marylyn Addo auszeichnet, ist nicht nur ihr bemerkenswertes Wissen. Es ist die Tatsache, dass sie sich selbst zugleich als Lernende begreifen und bereitwillig ihren eigenen Wissenszuwachs mit anderen teilen. Dass sie ihre Schülerinnen und Schüler begleiten und sie in die Verantwortung nehmen: Wir können euch die Dinge nur erklären, die Schlüsse müsst ihr selbst ziehen. Dass sie einräumen, was sie selbst noch nicht wissen, und sich nötigenfalls korrigieren. Sie sind Übersetzer und Mediatorinnen: Sie helfen über-zu-setzen, wo das Wasser tief ist.
Ob ich mich als Lehrerin, als Lehrer hinstelle und Frontalunterricht abhalte, oder ob ich den Weg des Lernens gemeinsam mit den mir anvertrauten Menschen abschreite, das ist eine Richtungsentscheidung mit erheblichen Folgen.
Es ist auch die Entscheidung, die ich treffe, wenn ich ein zentrales Kapitel im Matthäusevangelium in die eine oder andere Richtung deute. Ich spreche von dem Kapitel, das in der Übersetzung nach Martin Luther mit „Missionsbefehl“ überschrieben ist:
„Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28,16–20)
Der Text beschreibt den Augenblick, in dem Jesus die Jünger auffordert, seine Botschaft in die Welt zu tragen. Es ist der Text, der die christliche Mission und die Taufe begründet.
Ich sehe ihn vor mir, Jesus, den Lehrmeister, der seine Lehrbefähigung auf seine Nachfolger überträgt. Mit erhobenem Zeigefinger, ja vielleicht sogar mit einem Zeigestock in der Hand. So ist die Szene in der Kunst manchmal dargestellt worden. Ich sehe vor mir, wie Menschen das Christentum oft genug beigebracht worden ist: mit dem Auswendiglernen von Katechismen, mit Strafe und Belohnung. Und ich sehe vor mir, wie Missionare in Nigeria, Brasilien oder Indien in früheren Jahrhunderten die Bibel zu den Menschen gebracht und die Menschlichkeit dabei über Bord geworfen haben. Wie sie sich zu willfährigen Helfern der Kolonialmächte gemacht und die Botschaft, dass, wer auf die linke Wange geschlagen wird, auch die rechte hinhalten soll, klug genutzt haben, um die Bekehrten ruhig zu halten. Ich sehe das alles vor meinem inneren Auge, auch wenn ich weiß, dass Mission heute meist anders ist und dass christliche Hilfswerke auch viel Gutes in die Welt tragen. Und ich spüre: Mein Unbehagen hat etwas damit zu tun, dass am Ausgangspunkt etwas nicht stimmt mit der Richtungsentscheidung.
Ich schlage die „Bibel in gerechter Sprache“ an derselben Stelle auf und lese:
„Die elf Jünger wanderten nach Galiläa auf den Berg, auf den Jesus sie hingewiesen hatte. Und als sie ihn sahen, huldigten sie ihm, einige aber zweifelten. Jesus trat heran und sprach zu ihnen: ,Gott hat mir alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen. Taucht sie ein in den Namen Gottes, Vater und Mutter für alle, des Sohnes und der heiligen Geistkraft. Und lehrt sie, alles, was ich euch aufgetragen habe, zu tun. Und seht: Ich bin alle Tage bei euch, bis Zeit und Welt vollendet sind.‘“ (BigS)
Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe, heißt es in der Übersetzung nach Luther. Lasst alle Völker mitlernen, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache. Hier gabelt sich der Weg. Die Übersetzungsentscheidungen führen an andere Türen.
Ich werfe einen Blick ins Klassenzimmer mit dem Türschild Lehret sie: christlicher Frontalunterricht, gelangweilte Schülerinnen und Schüler, viele Plätze sind heute frei geblieben. Was mag sich hinter der anderen Tür verbergen, der Tür mit der Aufschrift Lasst alle Völker mitlernen? Lassen wir sie vorerst zu und gehen wir einen kleinen Umweg. Denken wir nach über das Wort mitlernen. Genauer gesagt über die beiden Wörter mit und lernen.
Mit kennzeichnet eine gleichlaufende Bewegung, so wie bei mitgehen oder mitmachen. Es drückt Zusammensein und Zusammenwirken aus, Wechselseitigkeit, Zugehörigkeit: so wie bei mitwirken und mitfühlen. Das Wörtchen mit hat es ganz nach oben geschafft in der Theologie der Com-passion. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sagen, dass Mit-Leiden, also die Teilnahme am Leid der anderen, das Schlüsselwort des Christentums ist. Das Wörtchen mit macht den Unterschied.
p>Und wie ist es mit dem Lernen? Seine indogermanische Wurzel
lais bedeutet Spur oder Furche. Lernen heißt demnach, einer Spur nachgehen, einer Sache nachspüren, ja sie erschnüffeln. Die Lust am Lernen ist den Menschen eingebaut. Lernen, Glück und Freude sind eng miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielt dabei die Neugierde. Sie ist wie das Vorglühen des Glückszentrums im Gehirn, sagt der Hirnforscher Manfred Spitzer. Das Glückszentrum geht nicht einfach an, wenn etwas Schönes passiert. Es geht an, wenn etwas neues Schönes passiert.
Lernen kann also glücklich machen. Vorausgesetzt, die Lernumgebung und die Lernmethoden stimmen. Wer sich wohlfühlt und sich mitgenommen fühlt, wer die richtigen Materialien, Strukturen und Lehrkräfte hat, lernt leichter. Die ernüchternde Erfahrung, dass das leider auch umgekehrt gilt, machen Millionen Familien in der Pandemie beim Homeschooling.
„Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen.“ Was ist das für ein schöner Satz! Wie klingt er so anders als „Gehet hin und lehret sie“. Da schwingt so vieles mit: ein Unterwegssein, bei dem der Weg das Ziel ist; ein Lernen, das nicht vom Zeigestock geleitet ist, sondern das auf die Glückserfahrungen beim gemeinschaftlichen Entdecken von Neuem setzt. Die Botschaft der Bibel gemeinsam erschnüffeln – nachgerade wie die Trüffelschweine auf der Suche nach dem unterirdischen Schatz!
Lasst alle Völker mitlernen: Da scheint eine Vorstellung vom Lernen durch, das den Menschen Autonomie und Freiwilligkeit zutraut und Freiräume eröffnet. Das sie bei ihrer Neugierde packt und das Glückszentrum im Gehirn vorglühen lässt. Das von seinem Lernstoff so überzeugt ist, dass er den Menschen nicht übergestülpt werden muss, weil er doch von ganz alleine leuchtet, wenn man ihn nur lässt. Ein Lernen, das leichtfüßig daherkommt, so wie jener geheimnisvolle Junge in Dota Kehrs Lied Für die Sterne: „Ich bin nicht hier, um mich zu bemühen, ich bin hier, um zu glüh’n. Ich bin hier für die Sterne und ich bin hier sehr gerne und ich bin hier, weil ich lerne.“
In diesem Lernen, in diesem Umgang mit der Bibel und dem Auftrag, ihre Botschaft in die Welt zu tragen, liegt die Chance, existenzielle Erfahrungen zu machen: nicht nur jene Glückserfahrungen, die mich glühen lassen und meinen Puls nach oben treiben, sondern auch die Erfahrung, zu den relevanten Antworten für mein eigenes Leben durchzustoßen und im gemeinsamen Schnüffeln an den ausgelegten Spuren auf Resonanz zu stoßen – Resonanz des Göttlichen und Unverfügbaren.
Lasst alle Völker mitlernen. Die Formulierung trifft mitten ins Herz eines Anliegens von Martin Luther: Seine Vorstellung von der Freiheit des Christenmenschen führt zu einer Haltung, in der Menschen sich das Wort Gottes im eigenen Gewissen und Wahrheitsbewusstsein aneignen. Das setzt die Fähigkeit und Gelegenheit voraus, selbstständig zu lernen, das eigene Urteilsvermögen zu schärfen, Gedanken gemeinsam weiterzuentwickeln. Wer weiß, vielleicht hätte Luther sich selbst für mitlernen statt lehren entschieden, wenn er damals schon gewusst hätte, was wir heute wissen über das Verhältnis von Lehren und Lernen, über Pädagogik und Didaktik, über die Bedeutung des partizipativen Lernens?
Scheinbar kleine sprachliche Unterschiede können weitreichende Folgen haben. In meiner Lektüre der zwei Versionen des Bibeltextes haben sie so unterschiedliche Assoziationen ausgelöst, dass eine Tür zuging und eine andere auf. So geht es mir auch mit einer anderen Stelle im selben Text: Dem lutherschen Taufet sie setzt die Bibel in gerechter Sprache entgegen: Taucht sie ein in den Namen Gottes. Ein wahrlich lebendiges Bild: Wasser, das reinigt, fließt, Durst stillt, schillert, benetzt, überflutet. Taufen legt den Fokus auf das Sakrament, Eintauchen auf das sinnliche Umhülltwerden durch das reinigende, heiligende Wasser.
Mitlernen und Eintauchen: In den Formulierungen der Bibel in gerechter Sprache sind die Menschen mittendrin statt nur dabei, sind sie aktiv statt passiv, machen sie sinnliche Erfahrungen, sind Herz und Verstand angesprochen. Für mich und meinen Glauben ist das wichtig. Das ist mein Lerngewinn aus der vergleichenden Lektüre des Bibeltextes.
Ich bin gelernte Übersetzerin. Ich weiß, dass Übersetzen stets ein Experiment mit Entwurfscharakter bleibt und dass Textvorlage und Übersetzung nie vollends zusammenrücken können. Deshalb ist es gut, dass viele Bibelübersetzungen nebeneinanderliegen. Ich bin dankbar für die Kraft und Klarheit der alten lutherschen Sprache, und ich bin froh um neue Sprachbilder, die kluge Übersetzerinnen und Übersetzer auch heute anbieten: erst recht, wenn sie mich, wie hier, inspirieren und ermuntern, ins weite Meer der biblischen Texte einzutauchen und nach Perlen zu fischen, die mein Leben reicher machen.
Damit möchte ich nun die Tür zum Klassenzimmer öffnen, das die Aufschrift trägt: „Lasst die Völker mitlernen“. Ich schaue vorsichtig durch den Türspalt und entdecke hier fröhlich diskutierende, dort ganz in sich versunkene Lernende, ich höre viele Sprachen, sehe dolmetschende Gebärden. Wo ist die Lehrperson? Ich entdecke sie mittendrin, in angeregte Gespräche verwickelt.
Es ist mein Bild einer Kirche, für die Mission nicht bedeutet, eine Lehre anzunehmen, sondern einen Lebensmodus mit anderen zu teilen. Die mit kreativer Bereitschaft erkennt, wer der „Nächste“ ist, und Mission nicht zum Herrschaftsinstrument macht. Mission wäre anders verlaufen, hätte sie unter dem Vorzeichen des Mitlernens statt des Lehrens gestanden. Hätte sie auch Lernenswertes in den missionierten Ländern und ihren Kulturen und Sprachen anerkannt und erschlossen. Die Chance, es besser zu machen, gibt es noch heute – auch im eigenen Lande, wo die interkulturelle Öffnung der Kirchen in der Einwanderungsgesellschaft noch immer am Anfang steht.
Es ist eine Kirche, die auf die Talente und Potenziale der Menschen setzt und ihnen Raum gibt, miteinander zu lernen, Ungewohntes zu erproben und sich zu entfalten, sei es in neuen digitalen oder analogen Formen von Gemeindeleben und Gottesdienst oder im Engagement für Demokratie und Umwelt. Es ist eine Kirche, die mit ihrem reichen Schatz an religiösem Wissen und spirituellen Erfahrungen zur Quelle von Inspiration wird.
Wie ist es bei Ihnen: Wo gehen Sie auf Schatzsuche, wenn Sie nach Antworten für Ihr Leben tasten? Wo finden Sie Ihre Quellen der Inspiration? Vielleicht beim Hören von Musik oder beim Lesen eines Buches, beim Blick auf die Weite der Berge oder die Unendlichkeit des Meeres? Vielleicht mag es Ihnen aber hin und wieder auch so gehen wie mir: dass ein vertrautes oder aber überraschend anders klingendes Bibelwort an Ihr Ohr kommt und Sie verzaubert: weil es eine Wahrheit enthält, die tiefer geht als andere, und weil es Sie verbindet mit Himmel und Erde.
Es gibt so viele Perlen zu fischen, einander zu zeigen und zu teilen, innerhalb und außerhalb von Kirche. Lassen Sie uns miteinander lernen: bis das Gehirn glüht, das Herz hüpft und die Füße zucken. Nicht Vortragende, sondern Mitlernende sein, nicht Vortänzerin, sondern Mittänzerin:
„Mittanzen im ewigen Reigen der Welt,
mitlachen im ewigen Lachen Gottes“,
so ahnte der Dichter Hermann Hesse,
„das ist unsere Teilhabe am Glück.“
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Eingangsgebet:
Wir treten vor Gott
und bitten ihn um Erbarmen.
Kyrie eleison
Gott, du erforschst mich und kennst mich. (Ps 139,1)
Du weißt, wie ich denke und fühle.
Du kennst meine Schwächen:
wenn ich an der Oberfläche der Dinge bleibe
und nicht genügend hinterfrage,
was mir selbstverständlich und klar erscheint;
wenn ich Menschen nach ihrem Aussehen,
ihrer Herkunft, ihrem Alter oder ihrer Sprache beurteile;
wenn ich glaube, alles zu wissen,
andere nicht zu Wort kommen lasse
und ihnen nichts zutraue.
Gott, ich bitte dich
um Nachsicht und Vergebung.
Kyrie eleison
Wenn mir der Mut und die Zuversicht fehlen,
an die Kraft deines Wortes zu glauben,
wenn ich andere gewinnen und überzeugen will,
aber selbst nicht für dich glühe,
dann hältst du mir hin
die Flügel der Morgenröte,
dass ich mich wieder aufschwinge zu dir.
Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir. (Ps 139,5)
Darauf will ich hoffen.
Im Vertrauen auf Gottes Hilfe.
Fürbittengebet:
Gott,
lass uns Übersetzerinnen und Übersetzer
deiner Botschaft sein:
dass wir auf den Grund der Worte schauen,
die Menschen zu allen Zeiten für dich gefunden haben,
ihren Klang erlauschen
und ihren Rhythmus erspüren;
dass wir zwischen den Zeilen lesen
und unsere eigenen Worte sorgsam wählen.
Lass uns auf andere Menschen unvoreingenommen blicken
und über sie so sprechen, dass wir ihnen gerecht werden;
dass wir wachsam sind, wenn wir Macht haben,
und sie nicht ausnutzen, auch nicht in unserer Sprache.
Lass uns aufrichtige Übersetzerinnen deiner Botschaft sein.
Lass uns in deinen Kirchen glaubwürdig sein
als deine Botinnen und Boten:
dass wir Phrasen und Halbwahrheiten meiden,
dass wir laut sind, wo es auf Haltung ankommt,
und still, wo wir nichts zu sagen haben,
dass wir selbst ernst nehmen,
was wir anderen predigen
weil wir darauf vertrauen,
dass du, Gott, in unserem Bruder Jesus Christus,
bei uns bist alle Tage,
bis Zeit und Welt vollendet sind.
Liedvorschläge: |
452 (Er weckt mich alle Morgen)
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398 (In dir ist Freude)
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209 (Ich möcht‘, dass einer mit mir geht)
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262 (Sonne der Gerechtigkeit)
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171 (Bewahre uns Gott)
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