Kinder staunen.
Wir Erwachsene messen die Welt nach Metern, Minuten und Kilogramm.
Kinder sind begeistert.
Wir tauschen Ansichten aus.
Manchmal streiten wir.
Manchmal machen wir den anderen den Platz am gedeckten Tisch streitig.
Dabei haben wir ihn selbst nicht gedeckt.
Ein Meister der Meditation und des Gebets sagte: „Hast du bemerkt, wie die Kieselsteine der Straße nach dem Regen sauber und glänzend sind? Wahre Kunstwerke! Und die Blumen? Kein Wort kann sie beschreiben. Man kann nur ein bewunderndes Ah! ausrufen. Du musst das Ah! der Dinge verstehen!“
Klärungen“ habe ich das übergreifende Thema der Oktoberausgabe der PASTORALBLÄTTER genannt.
Klärungen sind immer wieder neu nötig. Bis zum Jahr 1900, schätzen Historiker, verdoppelte sich das Wissen der Menschheit im Durchschnitt etwa alle einhundert Jahre. Heute brauchen wir dafür nur noch etwa ein Jahr. Verdoppelt, verdoppelt, verdoppelt. Jahr für Jahr für Jahr. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt. Noch schneller steigen die technischen Kapazitäten zur Speicherung, Verarbeitung und Übertragung.
Der „Erkenntniszuwachs“ gilt auch für die Theologie. Hatte ich mehrere Jahre den Eindruck, dass unsere Gelehrten auf der Stelle träten, so haben mich – im September stellte ich zwei hervorragende Publikationen aus der Schweiz als „Buchtipp“ vor – jüngste Arbeiten vom Gegenteil überzeugt.
Harald Lesch, Mai Thi Nguyen-Kim oder Ranga Yogeshwar sind herausragende Wissenschaftsjournalisten, denen es immer wieder gelingt, schwierige Themen im Fernsehen oder in Büchern verständlich zu machen. Dieser „Übersetzungsdienst“ ist ja auch tägliche Aufgabe von uns Pfarrerinnen und Pfarrern. Angesichts des fast exponentiellen Wachstums an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturgeschichtlichen Einsichten wird der „garstige Graben“, den wir – immer wieder hinüber und herüber – hermeneutisch überwinden müssen, immer breiter.
Navid Kermani, der hochgebildete liberale Muslim, der Bibel und Christentum besser kennt als manche, die sich berufen fühlen, betitelt sein Buch über das Christentum „Ungläubiges Staunen“ (München 2015). Der Protestant Jörg Lauster schrieb 2014 eine „Kulturgeschichte des Christentums mit dem Titel „Die Verzauberung der Welt“. Beide Bücher absolut lesenswert!
Kermani schreibt: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder viel-leicht sollte ich sagen: an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur auch für mich, dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst, nicht die Zivilisation mitsamt der Musik und Architektur, nicht dieser oder jener Ritus, so reich er auch sein mag. Es ist die spezifisch christliche Liebe, insofern sie sich nicht nur auf den Nächsten bezieht. In anderen Religionen wird ebenfalls geliebt, es wird zur Barmherzigkeit, zur Nachsicht, zur Mildtätigkeit angehalten. Aber die Liebe, die ich bei vielen Christen und am häufigsten bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben, den Mönchen und Nonnen, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied.“ (Navid Kermani, Ungläubiges Staunen, S. 169)
Zurück zum „Ah!“ der Dinge: Was ist nun im Konzert der Religionen und Kulturen das „Ah!“ des Christentums? Ist es die „Freiheit eines Christenmenschen“? Ist es die „Verzauberung der Welt“, die „Menschwerdung Gottes“, die „Kreuzigung des Gottessohnes“? Ist es die Liebe zum Fremden, zum Feind?
Worin liegt, liebe Leserin, lieber Leser, für Sie das „Ah!“ unseres Glaubens? Und bitte einmal nicht in Bruchstücken alter Bekenntnisse, auf die sich so einfach verweisen lässt.
Der Oktober mit seinem jährlichen Reformationsgedenken legt es nahe, immer wieder neu zu klären, wie mit dem Schatz und dem Ballast des Vergangenen aus christlicher, noch konkreter aus evangelischer Sicht heute gelebt, gepredigt, gestaltet und verzichtet werden könnte oder sollte, um die Zukunft so zu gestalten, dass unseren Nachkommen noch ein Staunen angesichts der Verzauberung der Welt bleibt.
Gerhard Engelsberger