Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen.
Jesaja 5,20
Andere zu segnen, das tut gut, ihnen Segen zusprechen. Anderen sagen: „Weh euch!“ oder „Weh dir!“. Das möchte man doch eher nicht, selbst wenn man es am liebsten denken würde. „Weh“ hat mit wehtun zu tun, mit „Ach und Weh“, mit Wehrufen, mit Wehklagen, wehleidig und mit Wehmut, aber vor allem mit dem Wort, von dem das Wörtchen, die kleine Interjektion „Weh“ herkommt: mit Weinen.
Der Monat November, in den unser Monatsspruch sein „Weh“ hineinspricht, hat es mit Weinen zu tun, auch mit Bösem, mit sauer und Finsternis. Die Tage sind schon längst länger dunkel geworden, wir gehen durch das Tal von Buß- und Bettag, von Friedensdekade, von Volkstrauertag und am Ende des Monats vom Totensonntag. Da fließen Tränen. Der Vers unseres Monatsspruchs steht im sogenannten Weinberglied, das uns Jesaja von Gott überliefert. Gott hat seinen Weinberg, sein Volk gepflanzt und gepflegt, und statt dass dieses Volk gute Früchte bringt, bringt es schlechte. Das Weinberglied ist eigentlich ein Liebeslied, ein Lied der Liebe Gottes zu seinem Volk, zu seinen Menschen. Doch es schlägt aufgrund des schlechten Verhaltens dieser Menschen um in ein „Tiefelied“ der Liebe: Gottes Liebe ist verletzt, enttäuscht, frustriert.
In dieser tiefen Tonlage klingt unser Monatsspruch mit, und es fragt sich, was schwingt von Gottes enttäuschter Liebe in unserem Vers mit, was ist aus Gottes Liebe geworden, wenn sie „Weh denen“ spricht? Ist dieses „Weh“ eine zornige, vergeltende, strafende und vernichtende Liebe für die, denen das Weh gilt? Vielleicht. Oder sogar sicher.
Ich höre darin aber auch eine Liebe, die ungeheuer klar, ja fast nüchtern ist, nicht betrunken von ihrer Enttäuschung, nicht wild vor Zorn, sondern anders. Diese Liebe benennt klar und nüchtern die Täuschungen derer, die sauer, böse und lichtfern sind. Sie deckt auf ihr teuflisches Spiel, ihre Verdrehungen, wie sie alles so weit verkehren, dass am Ende doch wird, für was sie stehen: sauer, böse und finster. Gottes Liebe macht aber klar: Es ist eben doch nicht gut, nicht Licht, nicht süß. Und so entdecke ich in dieser Liebe eine Zumutung für jene: Sie werden mit ihrem verkehrten Spiel nicht durchkommen, es wird ihnen nicht gelingen, mit List alle hinters Licht zu führen und Leben zu korrumpieren. Diese Liebe stellt die Täter.
Und diese Liebe schützt die Opfer. So wütend Gottes Liebe, so enttäuscht sie im „Tiefelied“ der Liebe ist, so sehr bleibt Gottes Liebe denen treu, die unter denen leiden, die das Leben verkehren, die Leben zerstören.
Das ist Gottes wahre verkehrte Welt, von Jesaja bis zu Maria: Die Mächtigen werden entmachtet, die Ohnmächtigen kommen zu ihrem Recht, die Kleinen werden groß, die Armen werden reich. Bei Gott: nicht um der bloßen Umdrehung willen, sondern um des Lebens willen. Das kleine „Weh“, das bei Jesaja im Weinberglied siebenmal und mit allem Nachdruck gesagt wird, das in Jesu Worten gegen die Heuchler seiner Zeit einen hörbaren Nachklang findet, jenes „Weh“ findet sich auch im Wort „Wehen“, spricht also auch von einem Geburtsschmerz, vielleicht einer göttlichen, einer schmerzhaften Geburt der Liebe Gottes durch das „Weh“ hindurch. Das Liebeslied Gottes bei Jesaja beginnt mit einem ähnlich antiquierten Wort, wie das „Weh“ eines ist. Es beginnt mit dem Wort „Wohlan“. Dies ist wie ein Ausrufezeichen und wirkt aber durch das Ringen der göttlichen Liebe seit der Schöpfung bis zum Neuwerden im Eschaton wie ein langer Gedankenstrich und lässt zwischen „Weh und Ach“ der Geduld Gottes Raum und seiner tiefen Gedanken an unser Wohl.