Redet freundlich mit Jerusalem! – Tröstet! Tröstet! Tröstet! – Und zwar: Alle. Alle. Alle.

Es wird – am Ende des Dreißigjährigen Krieges noch verständlicher als heute – schwierig gewesen sein, den Menschen zu übersetzen, dass Gott in die Welt kommt zur Rettung. Millionen Tote damals sind ein schlagendes Element gegen jede Christbaumkerze. Und doch: Heinrich Schütz, vielleicht der „evangelischste“ aller Kirchenmusiker, sagt es auf seine Weise: „Auf dass alle, alle, alle, alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden“. (Also hat Gott die Welt geliebt. SWV 380, Geistliche Chormusik, Motette 12) Alle, alle, alle, alle. Ich kann es nicht eindrücklicher und deutlicher sagen als er. Und deshalb sind wir Pfarrerinnen und Pfarrer manchmal auch Gejagte der eigenen guten Nachricht. Es sei denn, wir verdienen unser Geld mit „Dampfplauderei“ (ein Ausdruck meines geschätzten Vorgängers in der Schriftleitung, Pfarrer Hans-Georg Lubkoll). 

Weihnachten ist ein Christfest. Gott schreit in der Kälte eines Stalles nach Wärme. Er hofft, wir nehmen dieses Flüchtlingskind an. Und trauen ihm unsere Rettung zu.

War das ein Jahr! All die Corona-bedingten Schließungen, Sorgen, Einbußen, Kranken, Verstorbenen am Anfang. Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar, die Ausweitung der Kriegsziele am 20. Juli (so damals Außenminister Lawrow). Die schon im Sommer wieder steigenden Inzidenzen bei Corona. Die wochenlange Gluthitze über 40 Grad im Sommer mit Dürre, Ernteeinbußen. Die Gasknappheit, die Sparmaßnahmen, die rasende Inflation mit fast 10 % im Euroland … Ja, die Menschen brauchend dringend Trost. „Redet mit Jerusalem freundlich!“ Der zweite Satz nach dem „Tröstet, tröstet“ am Anfang von Jesaja 40.

Redet freundlich! Sich verständigen ist noch lange kein Gespräch. Sich verstehen noch lange kein Trost.

Alle, alle, alle … Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg. Von Weitem siehst du sie kommen, die Befreiten, die Hoffnungsträger, die Rückkehrer. Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg. Von Weitem siehst du ihn kommen, Gott, deinen Befreier, der deine Wunden heilt, deine Bäche speist, deine Sache vertritt, deinen Frieden garantiert.

Es gibt wohl kein tieferes menschliches Bedürfnis, keine tiefere menschliche Sehnsucht als die nach Geborgenheit, nach Frieden, nach freiem Leben, nach Heilung – umfassend nennt es die Bibel Schalom. Dem Frieden, der höher ist als alle Vernunft, der sämtliche Einsprüche, schlechten Erfahrungen und Bedenken widerlegt – dem Frieden über alle menschliche Vorstellungskraft hinaus – dem Frieden, für den selbst der Tod eigentlich kein Thema mehr ist – diesem Frieden gelten die tiefsten Menschheitsträume. Noch können wir uns in unseren kühnsten Träumen ein Leben in Frieden auch nur auf Kosten anderer, anderen Lebens, überhaupt vorstellen. Noch immer finde ich im Deutschen keinen besseren Ausdruck als „umfriedet“. Was Menschen am dringendsten brauchen ist ein „umfriedeter Raum“.

Trost und Freude. Es sind die wundesten Stellen eines Tieres, eines Volkes, eines Menschen, mit denen ich am sensibelsten umgehen muss. Verwundete in ihren Schmerzen sind trotz aller schlechten Erfahrung verführbar. Geschickte Hände, freundliche Worte – ich kann nur sagen: Seid vorsichtig. Nicht jeder, der euch einlädt, hat auch einen Raum für euch. Nicht jeder, der freundlich mit euch redet, meint es auch gut. Ich selbst bin auch in religiösen Dingen sehr, sehr vorsichtig. Da vielleicht am allermeisten, weil ich in meinem Amt trösten, freundlich reden, Heilung zusprechen und von Sünden lossprechen soll – darf. Und weil ich weiß, wie verführbar Menschen sind, wie verführerisch Religion, die Suche nach einem Halt, für Menschen sein kann. Sie gibt dir einen Sinn, ein Vaterland, für das es sich zu sterben lohnt, eine Idee, für die es sich zu kämpfen lohnt, einen Halt, eine Orientierung, das Gefühl der Bestätigung: Ich bin etwas, ich bin gefragt. Der Apostel Paulus fordert seine Briefadressaten auf: Prüft alles. Im Johannesbrief lesen wir: Prüft die Geister. Prüft die freundlichen Worte, die guten Nachrichten.

Die Adventsfreude ist eine ernste Freude. Ist eine ehrliche Freude. Sucht nicht nach vordergründiger Befriedigung. Die Adventsfreude geht erst weite Wege ins Exil, ins Elend. Und macht sich dann mit Befreiten auf und erzählt von einem Gott, der die Soldatenstiefel zum Schweigen bringt, bei dessen Ankunft Herzen aus Stein zu schlagen beginnen. „Er kommt, er kommt, der Friedefürst.“ In einem altbabylonischen Fragment des Gilgamesch-Epos, einer nichtbiblischen, babylonischen Schöpfungserzählung aus dem 2. Jahrtausend vor Christus, lese ich:

„Gilgamesch, wohin eilst du? Das Leben, das du suchst, findest du doch nicht! Als die Götter die Menschen schufen, setzten sie den Tod ein für die Menschheit, das Leben aber behielten sie in ihrer Hand. Du, Gilgamesch, fülle deinen Leib, Tag und Nacht sei vergnügt, täglich mache ein Freudenfest!

Rein seien deine Kleider, dein Haupt sei gewaschen, in Wasser sei gebadet! Schau‘ froh das Kind an, das deine Hand erfasst, das Weib freue sich in deinen Armen.“ (W. Vischer, Der Prediger Salomo, S. 150)

Ist das nicht verführerisch? Ist dieser Gilgamesch-Hinweis nicht das, was wir suchen? Verstehen wir, dass Jesus Christus am Kreuz, auferstanden zu gültigem Leben aller, dass Jesus Christus eine andere Hoffnung ist und unser Bild von Gott durchkreuzt? Den wir meinen zu haben, der aber sagt: Er kommt!

Zion, du Freudenbotin, steig auf die Türme deiner Stadt. Was du siehst, ist dir fremd. Öffne die Tore, und es brechen Ströme lebendigen Wassers in deine Wüste. Oder wie Jesus sagt – angesichts des Todes eines Mädchens – „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ Tochter Zion, freue dich! Er kommt. Nicht: Du gehst oder machst oder schweigst oder gibst. Nicht „du gehst“ – „Er kommt“.

Macht den Tempel zum Zelt, macht die Kirche zum Stall. Hütten statt Dome, Herzen statt Steine, Gesichter statt Statuen und Körper statt Säulen. Ihr seid die Kunstwerke Gottes. In eure Augen das Feuer seiner Liebe. In eure Hände die Kraft seines Geistes. In euren Mund seine Verheißungen. Macht den Tempel zum Zelt, macht die Kirche zum Stall. Hütten statt Dome, Herzen statt Steine, ein Kind uns geboren, ein Sohn uns gegeben. Fürchtet euch nicht!

Im Übrigen: Noch nie gab es in 162 Jahren Geschichte der PASTORALBLÄTTER eine Ausgabe mit annähernd vielen Bildern, Grafiken, Fotos. Das wird möglich durch ein äußerst gutes Archiv. Mein Dank geht deshalb an das Zeitschriften-Team in Freiburg, das vieles möglich macht.

Gerhard Engelsberger

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