Menschenrecht Geben

In dem großartigen, am 18. Oktober 2021 auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Deutschen Literaturpreis ausgezeichneten Roman „Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel lese ich einen Gedanken, den ich im Kern so ähnlich auch aus dem rabbinischen Schrifttum kenne:
„Auf dem Empfang wurde für wohltätige Zwecke gesammelt. Auch sie hatte er um fünf Euro gebeten, denn Großzügigkeit, fand er, sollte mehr sein als etwas, das man sich leisten kann. ,Eine Spende kommt nicht nur den Bedürftigen zugute‘, hatte er gesagt, ,sondern auch der Spenderin. Geben sollte ein Menschenrecht sein. Nimmt man uns die Möglichkeit zu geben, verlieren wir unser Selbstwertgefühl, die Anerkennung Gleicher unter Gleichen, und alles verkehrt sich um in Ablehnung und Hass.‘“ (S. 87)

Jesus, „der Mensch“ – ecce homo – und „Menschensohn“, gibt alles. Wir geben gelegentlich auch alles, bis zur Erschöpfung. Im Sport, bei der Arbeit, auf der Suche nach Vermissten, bei der Rettung von Opfern, in der Klinik oder im Pflegeheim – nicht nur während der Pandemie. Doch dann treten wir wieder zur Seite in unser „eigenes Leben“ nach dem Sport, nach der Arbeit, nach der Hilfsaktion. Jesus gibt alles, auch das „eigene Leben“. In der Passionswoche wird davon die Rede sein, und wir versuchen, uns diesem Geheimnis zu stellen. Wir wissen über dieses Geheimnis schon viel. Aber Glauben reicht weiter als Wissen. Deshalb blickt diese Ausgabe der PASTORALBLÄTTER, die Sie schon Ende Januar erreicht, bereits weit hinein in die Passionszeit, damit Sie entlastet planen können.

Zurück zum Menschenrecht Geben.
Meist steht das Geben unter Vorbehalt. Der Gitarrenspieler und Sänger, an dem wir in der Fußgängerzone vorbeigehen, hat seinen Gitarrenkoffer aufgeklappt. Wahrscheinlich hat er die ersten 1-Euro-Münzen und etwas „Kleingeld“ anfangs selbst hineingelegt.
Oder der Bettler mit Hund, der auf ein abgegriffenes DIN A4-Blatt „Ich habe Hunger! Bitte helfen!“ geschrieben hat. Ob er das Geld nicht gleich wieder versäuft?
Oder die Spende für die Diakonie oder für BROT FÜR DIE WELT, bei der nicht wenige meinen, da „bliebe zu viel hängen in der Bürokratie“. Stimmt wohl nicht, aber der Vorbehalt ist da.

Jesus hat, wenn ich die Evangelien lese, ohne Vorbehalt geliebt. Vorbehaltlos. Friedrich Weinreb, in dessen zahlreichen Büchern ich wieder einmal stöbere, schreibt: „Gerade das Vorbehaltlose dabei muss unsere westliche Kultur, die aus lauter Vorbehalten lebt, entweder verstören und verärgern oder aufbrechen, ja, umwälzen, oder gänzlich kaltlassen.“ (Christian Schneider (Hg.), Weinreb Lesebuch, Weiler 1997, S. 10)
Vorbehaltlosigkeit ist etwas anderes als Blauäugigkeit. Spätestens bei den Warnungen, bei seiner Reaktion auf das Aussprechen des Messiasgeheimnisses, erst recht in Gethsemane wird deutlich, wie sehr Jesus selbst im Gebet seine Vorbehalte nennt und dann zurückstellt, wie angespannt er reagiert auf Neugierde und Starkult. Ich will noch einmal die Gedanken der Buchpreisträgerin nennen:
„Nimmt man uns die Möglichkeit zu geben,
verlieren wir unser Selbstwertgefühl,
die Anerkennung Gleicher unter Gleichen,
und alles verkehrt sich um in Ablehnung und Hass.‘“

Ja, das ist uns bekannt, dass durch Spenden und Geben das Selbstwertgefühl steigt. Erst recht, wenn bei TV-Spenden-Shows Name, Ort und Betrag eingeblendet werden: „Die große RTL-Spenden-Show“ u. Ä. Jesus hat andere Vorstellungen: „Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir‘s vergelten.“ (Mt 6,3.4) Konsequent ist dabei auch, dass Jesus in Gethsemane allein betet, offensichtlich im Bewusstsein, dass sein Sterben wahrscheinlich ist.

Mich berührt mehr, dass Antje Rávik Strubel von der „Anerkennung Gleicher unter Gleichen“ schreibt. Gilt das auch für Jesus?
Sicherlich bei seiner Geburt. Ich habe einmal in einem Weihnachtslied geschrieben: „Klopf am Hinterhaus an, / such am Kornblumenweg, / und dann geh noch ein Stück querfeldein. / Die Gesichter sind hart. / Wo die Brennnessel blüht, / stehen Hütten aus Brettern, Blech und Stein. / Da ist Jesus geboren, / wo der Ehrenmann fällt, / zwischen Abfall und Hunger, / wo der Bus nicht mehr hält. / Zwischen Dunkel und Dreck, / zwischen Tränen und Schrei, / liegt das Kind in der Krippe dieser Welt.“
Zu Jesu Leben notiert Paulus im Philipperbrief: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.“

Er lebt, heilt und predigt wohl eher am Rand, hat kein Dach über dem Kopf, aber wird „als Gleicher unter Gleichen“ anerkannt und erkannt.
Und nicht anders stirbt er – unter anderen. Stirbt den Tod, den Tausende unter der römischen Besatzungsmacht gestorben sind. Randständig war, was heute im Mittelpunkt unserer Reise nach Israel steht.
„Man kann dann Abraham Versager nennen. Das ihm von Gott versprochene Land hat er als Fremdling nur gesehen, das Grab für seine Frau musste er dort für viel Geld kaufen; und so ging es allen Vätern. David, der König, hatte ein kleines Reich, in der Weltgeschichte überhaupt unbekannt. Mose scheint am Ende nichts erreicht zu haben, er muss auf Gottes Geheiß hier sterben, trotz seiner Bitten. Von Jesus kann man biblisch nur als von einem Debakel sprechen. Die Jünger bleiben in Angst und Sorge zurück, werden Märtyrer. Und doch ,weiß‘ man, dass Abraham der Vater des Glaubens ist, dass Mose doch das Wort von Gott empfangen hat, dass Jesus dennoch für die Welt entscheidend ist. Man weiß es eben aus jener paradoxalen Einheit von Geschichte und Ewigkeit.“ (Weinreb, a. a. O., S. 110)

„Verachtet und für nichts geachtet“ übernehmen und übertragen wir gerne aus dem Gottesknechtslied Jesaja 53 auf den leidenden und sterben den Mann aus Nazareth. Als noch weniger als gleich. Das wird so sein müssen in einer Welt, in der Zeus & Co. sich großartig gebärden, sich feiern lassen und sich meist nur zu erotischen Spielchen und sonstigen Späßen auf der Erde vermummen und so tun, als ob sie Gleiche wären.

Wird aus dem „Menschenrecht Geben“ eine „Menschenpflicht Teilen“? So wie aus dem Menschenrecht „Verzicht auf das Impfen“ eine „Menschenpflicht Impfen“ wurde? Ja, wenn wir Jesus nachfolgen.
Doch auch für diese Nachfolge gibt es eine Grenze beim „vorletzten Schritt“. Ich nehme noch einmal einen Gedanken von Friedrich Weinreb auf:
„Wenn das Matthäus-Evangelium ein Buch des Wesentlichen ist, dann wird man sagen müssen: Der Erlöser spricht, jeder kann es hören, doch viele Leute, die so weit weg wohnen, sind harthörig. Jene aber, welche hören wollen, die mitgehen, sie zeigen auch, wie schwer es ist, bis ins Äußerste mitzugehen, und sie zeigen damit eben, dass es eigentlich dem Menschen unmöglich ist, ganz den letzten Schritt zu tun. Man kann weit mitgehen und selber vieles wagen, aber nur bis zum vorletzten Schritt, es zeigt sich dann, selbst wenn du nicht wagst, bis zum Ende mitzugehen, doch das gleiche Ende, das erlebst du.“ (a. a. O., S. 214 f)

Eine persönliche Bemerkung noch:
Gerne komme ich – sobald die Pandemie es zulässt – zu einem homiletischen Vortrag, zu einem Gedankenaustausch oder zu einem Gottesdienst in Ihre Gemeinde oder Ihren Kirchenbezirk/Ihr Dekanat. Als Schriftleiter sind mir die Begegnung, der Austausch mit und die Anregungen von Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig.

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