Was kann Predigt sein?
„Predigen ist nichts anderes als einen Fachvortrag halten.“ Der dies vor nunmehr einer Generation sagte, war ein mir nahestehender Mensch, der sich in der aufstrebenden Computertechnologie betätigte. Ich, der es vernahm und gedanklich aufnahm, stand noch recht am Anfang meiner Entwicklung als Prediger mit wenig Erfahrung vollgestopft mit theologischem Wissen aus dreizehn Studiensemestern. Diese Konstellation trug dazu bei, dass ich dem Gesagten Glauben schenkte und mich für einige Zeit bemühte, auf der Kanzel fundierte Fachvorträge über Bibeltexte zu halten. Eine Zeit lang war ich sehr froh um diese Vorstellung vom Fachvortrag. Mit dieser Vorstellung vom Fachvortrag schützte ich mich selbst vor der gewaltigen Aufgabe, die es bedeutet, eine Predigt zu halten, und sicherte mein damaliges Überleben als Kanzelredner. Die Sache mit dem Fachvortrag erwies sich dennoch als anstrengende Angelegenheit, sowohl für mich als auch für die Menschen, die sich Sonntag für Sonntag unter meiner Kanzel einfanden. Menschen, die sich den Sonntagvormittag freinehmen, um an einem Gottesdienst teilzunehmen und eine Predigt zu hören, mögen sehr willig sein, doch zeigen sie sich überfordert bei der Aufgabe, als Wissenschaftler, Familienmenschen, Steuerzahler, Konsumenten am Sonntag für knapp 20 Minuten zu Theologinnen und Theologen zu mutieren. Ich merkte es bald, dass die Sache mit dem Fachvortrag für eine Predigt nicht passend war. Ich erfuhr, was Predigt nicht war, hatte aber nach wie vor wenig Ahnung, was Predigt dann sein konnte oder sollte.
Kommunikation als Wechselwirkung
Viel ist geschehen seither – in der Welt, mit mir und nicht zuletzt im Blick auf die Vorstellung davon, wie Menschen miteinander kommunizieren. Das hat Folgen für das, was eine Predigt zu leisten hat. Das technisch ausgelegte Sender-Empfänger-Modell hat in der Kommunikationswissenschaft ausgedient. Kommunikation wird als ein komplexer Prozess verstanden und nicht länger als eine Einbahnstraße zwischen jemandem, der etwas sagt, und einer anderen Person, die das Gesagte hört. Das gilt auch für die Predigt genannte Kanzelrede.
Wovon auch immer ich auf der Kanzel rede, wird bei den Hörenden in den Kirchenbänken oder Stuhlreihen auch am Sonntagvormittag eine Welt eigener Vorstellungen, Gefühle und Gedanken wachrufen. Darin liegt die Wirkung von Sprache. Worte wirken. Damit sind wir beim Predigtanliegen und bei der Predigtaufgabe. Die Predigtaufgabe ist der verantwortungsvolle Umgang mit den möglichen Wirkungen meiner Worte. Das Predigtanliegen liegt darin, mit Worten das Wort zur Wirkung zu bringen.
Mit Text und Zuhörerschaft in Kommunikation
Predigtarbeit war über einen langen Zeitraum von der Vorstellung geprägt, von einem erfassten Text zur Verkündigung zu gelangen. Das Motto lautete: Vom Text zur Predigt. Auch dies war eine Einbahnstraße, vergleichbar dem Sender-Empfänger-Modell. Entsprechend entwickelte sich vielerorts die Predigt von einer exegetischen Erläuterung des Textes zu einer sich daraus ergebenden Schlussfolgerung, Anwendung oder Handlungsanweisung. Dieses Modell halte ich für fragwürdig. Der Ausgangspunkt, von dem aus sich eine Predigt entwickelt, ist die eigene Lebenswirklichkeit der Predigerin/des Predigers. Nur dieser Zugang ist plausibel. Ich kann nicht aus meiner Wirklichkeit aussteigen. Deshalb kehrt sich die Richtung um. Aus der eigenen Lebenswirklichkeit des Predigenden ergeben sich ein Interesse und eine Fragestellung an den Text und seine mögliche Botschaft. Dieser Zugang ist subjektiv. Es ergibt sich daraus weder die Verpflichtung noch die Berechtigung, dass das Gesagte eine allgemeingültige Wahrheit darstellt. Predigtarbeit ist ein lebendiger Dialog mit dem Text. Ich kommuniziere mit dem Text und der Text mit mir. In der Predigt lasse ich die Zuhörerinnen und Zuhörer an dieser Kommunikation teilhaben. Dabei sind wie in jedem Dialog kritische An fragen, offene Fragen und auch Widerspruch möglich. Analog zu meinem eigenen Predigtprozess stellt sich ein Dialog mit der Lebenswirklichkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer ein. Dafür muss für mich als Prediger klar sein, unter welchem Gesichtspunkt ich die Botschaft des Textes vermitteln möchte. Es soll nicht nur deutlich, sondern erlebbar werden, worauf der Text sich bezieht. Da ich als Prediger die Lebenswirklichkeit meiner Zuhörerinnen und Zuhörer im Einzelnen nicht kenne und auch nicht weiß, in welcher Verfassung sie zum Gottesdienst gekommen sind, ist es meine Aufgabe, die Lebenswirklichkeit, der ich im Blick auf den Text Bedeutung geben will, möglichst anschaulich zu beschreiben und zu vermitteln. Es ist nicht angezeigt, in der Predigt zu versuchen, eine Vielzahl möglicher Lebenswirklichkeiten zu beschreiben. Man könnte zwar der Meinung sein, dass man dies den Gottesdienstteilnehmenden schuldig ist, aber in der Predigt ist es unangebracht. Es stiftet in der Zuhörerschaft nur Verwirrung und es verhindert, dass sich zwischen mir und der Gemeinde ein kommunikatives Feld aufbauen kann. Dies ist aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Predigt ihre Wirkung entfalten kann. Diese kommunikative Vorbereitung ist der wichtige Dienst, den ich als Predigender zu erbringen habe. Es ist die Bedingung der Möglichkeit, dass sich das Entscheidende und Eigentliche der Predigt ereignen kann: die Wirkung des Heiligen Geistes. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: über diese Wirkung verfüge ich nicht. In dieser Hinsicht bin ich als Predigender selbst ein Empfangender, ich bin angewiesen und sogar bedürftig.
Wirkungsweise von Predigt
Damit wären wir beim Predigtanliegen. Was soll sich in der Predigt konkret ereignen? In die Lebenswirklichkeit, die meine Worte den Zuhörenden vorstellbar und präsent gemacht haben, wirkt das Wort Gottes hinein. Das ist eine gewaltige Sache. Man kann dies nur mit höchster Ehrfurcht betrachten. In der Predigt geschieht auf diese Weise etwas Heiliges. Die Lebensgegenwart der versammelten Gemeinde wird zum Erfahrungsbereich der Gegenwart Gottes. Für den Predigenden bedeutet es die Bereitschaft, im entscheidenden Augenblick zur Seite zu treten und dadurch die Wirkung des Wortes zuzulassen und zu ermöglichen. Mit meinen Worten stelle ich etwas bereit, aber ich verfüge nicht über die Wirkung meiner Worte. Je mehr meine Worte Wirkung entfalten, desto demütiger habe ich es zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist keineswegs eine numinose Vorstellung. Meine Worte werden erfüllt von der Wirklichkeit, von der ich selbst getragen bin. Meine Worte weisen über sich selbst hinaus und öffnen den Raum zur Erfahrung von Transzendenz. Nicht meine Worte sind ewig, sondern das, was sich durch sie vermittelt. Damit die Botschaft des Wortes erfahrbar werden kann, braucht diese einen inkarnatorischen Bezugspunkt in der Lebenswirklichkeit. Meine Worte aktivieren bei der Zuhörerin und beim Zuhörer die Vorstellung von eigenem Erleben: Erfahrung von Angst, Unsicherheit, Unentschlossenheit, Glück, Sehnsucht, Kreativität, Hoffnung, Liebe. Die Neurobiologen sagen: Es findet ein Arousal statt. Ich muss es ermöglichen, dass meine Zuhörerinnen und Zuhörer, mit dem, was ich ihnen an Vorstellungen anbiete, ganz bei sich sein können. Das ist dann der Augenblick, in dem sich mir, dem Prediger, und für die versammelte Gemeinde der Himmel auftun und Gott zur Sprache kommen kann. Trost, Mahnung, Zuspruch, die sich aus dem befragten biblischen Text entfalten, sollen in der eigenen Lebenswirklichkeit erfahrbar werden. Wenn ich von „Zuwendung Gottes“ rede, ohne dass meine Zuhörer eine Vorstellung von „Zuwendung“ haben, bleibt dies ohne konkreten Bezug und es ist nichts gewonnen. Ich brauche für das, was ich sagen will, einen Erfahrungsbezug als Anknüpfungspunkt. Deshalb habe ich mich vom Modell „Vom Text zur Predigt“ verabschiedet. Ich empfehle und praktiziere daher in meiner Predigtpraxis den Weg von der Lebenswirklichkeit hin zur Botschaft. Predigtarbeit ist in diesem Sinne ein kommunikativer Prozess zwischen mir als Prediger und dem Text und in Folge zwischen der Gottesdienstgemeinde und mir. In diesem Prozess ereignet sich die Gegenwart Gottes und kommt der Heilige Geist zur Wirkung.