Was ist da bloß los?
Mit schnellen Federstrichen hat Rembrandt hier in ungewöhnlicher Weise eine biblische Szene auf das Blatt gesetzt. Fast wirkt die Federzeichnung wie eine Karikatur oder wie ein Einzelbild aus einem Comic oder, etwas anspruchsvoller, einer Grafic-Novel.
Rechts auf dem Blatt sehen wir ein gesatteltes Reittier. Im Hintergrund ist ein Haus zu erkennen und eine Landschaft angedeutet. Vielleicht ist das Tier ein Pferd oder ein Esel. Sattel und Zaumzeug mit den hängenden Zügeln sind gut zu erkennen. Offenbar wurde gerade auf diesem Tier geritten oder es für einen Ritt vorbereitet. Das Tier steht ganz ruhig. Es hat den Kopf leicht erhoben und scheint nach links zu blicken. Die Ohren sind aufgerichtet. Sie machen fast den Eindruck, als ob das Tier lauscht. Diese rechte Seite der kleinen Federzeichnung wirkt entspannt und ruhig, fast schon idyllisch.
Aber da ist ja noch die andere Seite, die von dieser Idylle so gar nichts hat: Ein Mann und ein Engel sind zu sehen. Der schwebende Engel hat den Mann beim Kragen oder direkt beim Hals gepackt. Seine linke Hand hält ihn fest. Die rechte hat er mit einer Peitsche oder Gerte erhoben. Er hat die Peitsche weit nach hinten zwischen den Flügeln zum kräftigen Schlag ausgeholt.
Der Mann versucht, sich mit beiden Händen gegen den Griff des Engels zu wehren. Den Kopf hat er vom Engel weg zur Seite geneigt und scheint dem drohenden Schlag ausweichen zu wollen. Seine Beine haben für einen stehenden Menschen eine ungewöhnliche Haltung. Sie wirken, als ob er noch reitet, als ob er grade eben aus dem Sattel gehoben wurde. Hinter ihm fällt seine Reitgerte, die er offenbar in der rechten Hand gehabt hat, zu Boden. Hier ist nichts Ruhiges, sondern wir haben den Eindruck, dass wir ein einzelnes Bild eines rasenden Films vor uns haben. Rembrandt hat in dieser Federzeichnung die ganze Dynamik und damit auch die Komik der Szene auf den Punkt gebracht.
Wir können uns also vorstellen, was hier gerade passiert ist: Bileam ritt auf seiner Eselin. Verführt von den schmeichelnden Worten der Boten des Königs Balak und der in Aussicht gestellten reichen Belohnung war er nicht mehr so ganz sicher, was Gott von ihm wollte. So hatte er seine altgediente Eselin gesattelt und war gestartet. Und die Bibel erzählt hier geradezu humorvoll mit den Stilmitteln der Fabel, was dann passiert. Eine tolle Geschichte ist das und etwas ganz Besonderes in der Bibel: Da sieht eine alte Eselin mehr als der Seher, von dem es ausdrücklich heißt: „Bileam, der Sohn des Beor, der Mann, dessen Augen offen sind.“ (4. Mose 24,3b) Da ist die Gotteserkenntnis eines alten Reittieres höher als die des Gottesmannes. Da spricht das Tier zu seinem Reiter und weist diesen auch noch zurecht. Es ist eine Erzählung voller Ironie und Humor.
Obwohl uns der erste Aspekt dieser biblischen Erzählung angesichts der Problemlage rund um Europa das Lachen und selbst das Schmunzeln schnell gefrieren lässt. Da ist aus der Sicht der Moabiter ein fremdes Volk, das eine fremde Religion hat, auf der Flucht ist, und es arbeitet sich langsam, aber beständig in Richtung des Gelobten Landes vor. Ein Ruf eilt ihnen voran. Und die von ihnen erfolgreich geschlagenen Schlachten machen die Runde. Die Späher haben dieses fremde Volk gesehen und gezählt. Sie beobachten den Flüchtlingsstrom genauso, wie das durch die Aufklärungsabteilungen heute geschieht. Und auch die Ängste sind vergleichbar. „Dieser Haufen wird alles um uns herum fressen, so wie ein Ochse die Weide kahl frisst!“ (4. Mose 22,4), heißt es da. Und: „Sie besetzen wirklich schon das ganze Land, so weit das Auge reicht. Sie haben sich ganz in meiner Nähe niedergelassen.“ (4. Mose 22,5b) Die Moabiter fürchten um alle Ressourcen und sind sicher: Wir schaffen das nicht!
Ähnliche Äußerungen können wir uns in Europa vorstellen und hören sie ja auch. Und sofort steigen Fotos und Filmberichte vor unseren inneren Augen auf, die sich uns eingebrannt haben. Wir sehen den Strom der Flüchtlinge auf die polnische Grenze zulaufen und die provisorischen völlig unzulänglichen Lager. Wir erinnern uns an die Balkanroute und Berichte aus der Türkei. Wir sehen die griechischen und italienischen Auffanglager. Wir wissen um die Mühen, diese heutigen Flüchtlingsströme abzuwehren.
Balak, der König der Moabiter, sucht nach Möglichkeiten der Abwehr und überschlägt die Chancen. Eine Frontex vergleichbare Abteilung gab es in seinem Reich nicht. Stacheldraht war noch nicht erfunden, konnte also nicht zur Grenzsicherung eingesetzt werden. Auch Zäune gab es noch nicht, konnten also weder einfach noch doppelt oder gar mehrfach, wie an den heutigen Grenzen Europas, aufgestellt werden. Eine Mauer zur Abriegelung des Jordanufers nach dem Vorbild der Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko oder der großen Chinesischen Mauer oder auch nur des römischen Limes war für die Moabiter unvorstellbar. Und die militärischen Mittel waren auch zu gering und damit aussichtslos.
Also kommt Balak auf eine verwegene Idee: Er will das fremde Volk mit der fremden Religion verfluchen lassen, um es dadurch zu schwächen. Er schickt daher zu dem berühmten Seher Bileam und lässt ihm sagen: „Bitte komm her! Verfluche dieses Volk für mich! Denn es ist stärker als meines. Vielleicht kann ich es dann besiegen und aus dem Land vertreiben. Denn ich weiß: Wen du segnest, der ist gesegnet. Und wen du verfluchst, der ist verflucht!“ (4. Mose 22,6) – Aber weiß Balak eigentlich, welchem Gott Bileam dient?
Wahrscheinlich nicht wirklich. Und nach der in Tell Der-Alla gefundenen kanaanäisch-aramäischen Inschrift aus dem 9. Jahrhundert vor Christus konnte er es auch nicht, denn danach war Bileam ein Seher der Götter, die nachts zu ihm kamen. Wie sollte Balak also wissen, dass nun ausgerechnet der Gott, dessen Volk er verfluchen lassen will, nachts zu Bileam spricht. Erst beim zweiten Besuch der Abgesandten bekennt sich Bileam zu Jahwe. Das hat wiederum etwas und ist ungefähr so, als ob die Führung der Europäischen Union ausgerechnet einen berühmten Iman bittet, die muslimischen Flüchtlinge vor den Toren Europas zu verfluchen. Man ahnt, worauf das hinausläuft.
Israel, das Flüchtlingsvolk, weiß aber von alledem nichts.
Die Szene, wie nun die Boten zu Bileam kommen, hat meines Erachtens wieder ganz viel Humor. Sie ist großartig und bildreich erzählt: Die Boten des Königs Balak kommen also zu Bileam. Sie bringen vorsichtshalber Lose, also Geräte zum Wahrsagen, mit. Es könnte ja sein, dass es dem Seher gerade daran mangelt. Bileam hört sich an, was die Boten zu sagen haben, und schickt sie ohne Antwort zu Bett. Nachts dann meldet sich der Gott Israels bei ihm. Der Gott, der alles weiß, erkundigt sich nach den Gästen und was sie denn so wollen. Bileam erzählt es ihm und bekommt ein klares Veto. Morgens schickt Bileam dann die Boten mit einer Absage zurück zu König Balak.
Der aber belässt es nicht dabei, sondern schickt mehr und höher gestellte Vertreter. Er winkt mit Anerkennung und Gold und Reichtum als Lohn. Er schmeichelt und lockt. Bileam bleibt zwar im Prinzip bei seiner Haltung, will aber noch einmal darüber schlafen. Vielleicht hat er gehofft, vielleicht angesichts des versprochenen Lohnes sogar gewünscht, dass Gott seine Meinung ändert. Und so hört er, meint er zu hören, dass er ruhig mit den Boten gehen soll. Und bricht am nächsten Morgen auf.
Israel, das Flüchtlingsvolk, weiß aber von alledem nichts.
Nur, so ganz konsequent steht Gott dann nicht zu dieser Abreise. Er ärgert sich über Bileam, wie der da guter Dinge mit seiner alten Eselin losreitet. Gott ist offenbar nicht so sicher, was Bileam vorhat, und will ihn aufhalten. Er sendet seinen Boten, der sich ihm entgegenstellt. Die Verfluchung seines Volkes will Gott auf jeden Fall verhindern.
Der Engel steht auf dem Weg mit gezücktem Schwert. Die alte Eselin sieht ihn. Der Seher sieht ihn nicht. Die Eselin weicht dem Engel über den Acker aus und kassiert dafür Schläge von Bileam.
Der Engel stellt sich an eine enge Stelle zwischen den Mauern der Weinberge. Die alte Eselin sieht ihn. Der Seher sieht ihn nicht. Die Eselin weicht dem Engel aus, indem sie sich an der Mauer langquetscht, was natürlich den Fuß des Reiters einklemmt, und kassiert dafür erneut Schläge von Bileam.
Der Engel stellt sich an eine Stelle, an der es keine Ausweichmöglichkeit mehr gibt. Die alte Eselin sieht ihn. Der Seher sieht ihn nicht. Die Eselin legt sich unter Bileam hin und kassiert dafür erneut Schläge von Bileam. Nun fängt die Eselin an zu sprechen und Bileam ist gar nicht überrascht darüber, sondern streitet wütend mit dem Tier, das ihm Vorhaltungen macht. Und dann endlich sieht der Seher, was die Eselin schon so lange gesehen hat. Er erkennt den Engel des Herrn. Und dieser macht ihm Vorwürfe, weil er die Eselin geschlagen hat. Und als Bileam sich reumütig erkundigt, ob er umkehren soll, sagt der Engel zu ihm: „Geh ruhig mit den Männern! Aber du darfst ihnen nur das weitergeben, was ich dir sage.“ (4. Mose 22,35) Und wir ahnen, worauf das hinausläuft.
Israel, das Flüchtlingsvolk, weiß aber von alledem nichts.
Die biblische Erzählung geht bildreich weiter. Balak wirft Bileam vor, dass er die Dringlichkeit nicht erkannt und getrödelt habe. Bileam muss erst noch opfern. Dann wird gut zu Abend gegessen und geschlafen. Am nächsten Morgen bekommt Bileam einen Teil des Volkes Israel von einem Berg aus zu sehen. Er opfert erneut. Spricht ein bisschen mit Gott und segnet dann Israel im Auftrag Gottes statt es, wie von Balak gewünscht, zu verfluchen.
Balak ist sauer und führt Bileam auf einen anderen Berg, damit er nun endlich das Flüchtlingsvolk verflucht. Daraus wird aber wieder ein Segen. Balak versucht es auf einem dritten Berg mit bester Aussicht über das ganze Volk Israel, damit Bileam nun endlich das Flüchtlingsvolk verflucht. Daraus wird aber wieder ein Segen. Da wird Balak richtig wütend auf Bileam und beleidigt ihn. Er schreit Bileam an: „Ich habe dich gerufen, damit du meine Feinde verfluchst! Aber jetzt hast du sie schon drei Mal gesegnet! Mach, dass du nach Hause kommst, und zwar sofort.“ (4. Mose 24,10.11)
Bileam rechtfertigt sich, indem er sich auf Gott beruft. Und zum Abschied segnet er noch einmal Israel und sagt den Moabitern den Untergang voraus. Und da er grade dabei ist, kündigt er auch anderen Völkern noch ihren Untergang an. Dann erst geht er nach Hause.
Israel, das Flüchtlingsvolk, weiß aber von alledem nichts. Sie wissen nicht, wer sie gesegnet hat. Und so bringen sie Bileam später zusammen mit den Königen der Midianiter um.
Auf der Federzeichnung Rembrandts erkennen wir also Bileam, seine Eselin und den wütenden Engel. Und doch ist die Szene anders dargestellt, als wir sie uns nach der Erzählung wahrscheinlich vorstellen. Die Eselin liegt nicht unter Bileam und der Engel steht nicht vor der Eselin, sondern der Engel hat Bileam von der Eselin geholt und droht ihm Schläge an. Und dabei ist die fallende Reitpeitsche des Bileam von großer Bedeutung. Rembrandt setzt nämlich hier einen Aspekt dieser biblischen Erzählung dramatisch in den Mittelpunkt, den wir meist nicht besonders beachten: Die Frage des Engels: „Warum hast du deine Eselin drei Mal geschlagen?“ (4. Mose 22,32) Moses Maimonides, der jüdische Philosoph des 12. Jahrhunderts schreibt: „Unsere Weisen haben festgestellt, dass es in der Torah ausdrücklich verboten ist, einem Tier Schmerzen zu verursachen, und dass dieses Verbot auf dem Satz beruht: ,Warum hast du deine Eselin geschlagen?‘“
Es geht heute für uns nicht darum, ob wir Gottes Volk verfluchen oder segnen, sondern ob wir Gottes Willen folgen, im Großen wie im Kleinen. Es geht darum, wie wir mit anderen Menschen umgehen, auch und gerade mit Flüchtlingen. Und es geht auch darum, wie wir mit Gottes Geschöpfen umgehen, auch mit einer alten Eselin.
(Alle biblischen Zitate nach der Übersetzung der BasisBibel)
Alternative Lesung: „Die Geschichte von Bileam und seiner gottesfürchtigen Eselin“ aus Klaus-Peter Hertzsch: Wie schön war die Stadt Ninive. Biblische Balladen zum Vorlesen. Union, Berlin 1967 = Klaus-Peter Hertzsch: Der ganze Fisch war voll Gesang. Biblische Balladen zum Vorlesen Radius, Stuttgart 1969